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70 Jahre Mercedes-Benz 300 SL: Wie Mercedes dem Fortschritt Flügel verlieh

28.05.2024 10:35 Uhr | Lesezeit: 4 min
Generationtreffen: Mercedes-Benz 300 SL Rennwagen W 194 von 1952 mit Nachfolgern.
© Foto: Mercedes-Benz

Heute wertvollster Oldtimer der Welt, damals futuristischer und furios schneller Technologieträger, der Mercedes 300 SL "Gullwing" schreibt seit 70 Jahren Sportwagengeschichte. Vor allem ist er Gründer der SL-Dynastie, die mit Roadstern á la "Pagode", R 107 oder AMG-SL bis heute Sonnenkönige hervorbringt.

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Wer kennt sie nicht, die Träume vom Fliegen und damit grenzenloser Freiheit. Vor 70 Jahren war es das frühe Jet-Zeitalter, das die amerikanischen Autobauer zu Dreamcars inspirierte, die mit Designmerkmalen aus dem Flugzeugbau die Zukunft in aufregende Formen gießen sollten. Aber dann präsentierte Mercedes-Benz im Frühjahr 1954 auf der „International Motor Sports Show“ in New York ein Fahrzeug, das dem Fortschritt Flügel verlieh, die bis heute unerreicht verführerisch sind: Der technisch visionäre Supersportler Mercedes 300 SL (W 198), in den USA "Gullwing" (Möwenschwinge) genannt, strahlte so hell, dass er 1999 den Award "Sportwagen des Jahrhunderts" gewann.

Für Faszination sorgen die Flügeltüren, wenn sie sich erheben und den Weg in einen knapp geschnittenen Innenraum freigegeben. Ein ikonisches Karosseriedetail, das Mercedes auf weitere Supercars übertrug, vom Mercedes C 111 bis zum aktuellen AMG-One mit Scherentüren. Entstanden war der 300 SL zunächst 1952 als erfolgreicher Rennwagen (W 194), aber dann konnte der amerikanische Mercedes-Importeur Maximilian "Max" Hoffman den Vorstand der damaligen Daimler-Benz AG zur Entwicklung der extrem schnellen, aber exorbitant teuren Straßenversion (W 198) überreden. Tatsächlich fand dieser Traumwagen bis 1957 insgesamt 1.400 Käufer, davon etwa 1.100 in den USA. Vor allem aber legte der Gullwing den Grundstein zur SL-Dynastie, die als Roadster immer neue Kultmodelle lanciert, von der "Pagode" über den R 107 bis zum V12.


70 Jahre Mercedes-Benz 300 SL

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Es war das erste Nachkriegsjahr, in dem sich Deutschland sportlich wieder erfolgreich mit den weltbesten Nationen messen konnte: Im Sommer 1954 mit dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft, auf "Halla" wurde Hans-Günter Winkler Weltmeister im Springreiten, der Titel der Eiskunstlauf-Weltmeisterin ging an Gundi Busch, der Grand Prix von Frankreich brachte das Formel-1-Debüt des neuen Mercedes-Werksteams und gleich einen Doppelsieg der Mercedes-Silberpfeile durch Juan Manuel Fangio und Karl Kling; am Ende der Saison wurde Fangio Weltmeister. Mercedes vor Maserati und vor Ferrari, der Marke mit dem Stern wollte damals fast alles gelingen, seit 1952 der 300 SL (W 194) grandiose Triumphe in Le Mans (Doppelsieg), am Nürburgring (Dreifach-Erfolg) oder bei der Carrera Panamericana herausfuhr.

300 SL: Design sorgte für Begeisterung

Das Design des 300 SL begeisterte auch die Amerikaner, folgte es doch aerodynamischen Grundsätzen, verzichtete auf modische Gimmicks, war stattdessen seiner Zeit voraus: Selbst im Stillstand schien das Fahrzeug stets auf dem Sprung nach ganz vorn. Kein Wunder, dass Max Hoffman diesen Pulsbeschleuniger an die große Fraktion wohlhabender amerikanischer Speedjunkies verkaufen konnte. Letztlich aber waren es die neuartigen Flügeltüren, die den Sechszylinder zum Mythos machten, der von New York bis Hollywood sogar weit leistungsstärkeren V8 oder V12 die Show stahl.

Fungieren Flügeltüren heute oft nur als Blickfang, hatten sie beim 300 SL mit Leichtbau-Gitterohrrahmen eine konstruktiv bedingte Ursache. An den Seitenflanken war der Rohrrahmen so hoch, dass nur am Dach angeschlagene Türen eine ausreichend große und als Nebeneffekt spektakuläre Einstiegsöffnung boten. Damit die Beine des Piloten einfacher in Richtung Pedale eingefädelt werden konnten, ließ sich das Lenkrad nach unten klappen.

Seinem Typencode SL für "Super-Leicht" wurde der Sportler alternativ durch eine Teil- oder optional Voll-Aluminiumkarosserie gerecht, jedenfalls garantierte der aus dem Typ 300 "Adenauer-Mercedes" bekannte, aber mit Finessen wie einer Benzin-Direkteinspritzung auf 158 kW / 215 PS erstarkte 3,0-Liter-Sechszylinder brillante Fahrleistungen. Bis zu 260 km/h betrug seine Endgeschwindigkeit. In einer Zeit als der VW Käfer mit Anlauf 112 km/h erreichte und sich Verkehrsplaner für schnelle Pkw wie die 145 bis 160 km/h flotten Porsche 356 eine separate Autobahnspur wünschten, wirkte der 300 SL wie ein erdgebundener Überschalljet. Vergleichbar mit dem ebenfalls 1954 vorgestellten Lockheed F-104 Starfighter als erstem Mach-2,2-Rekordjäger.

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Für eine Sternstunde des Temporekords war der Gullwing-Benz sogar nach Produktionsende gut: 1962 erreichte Radrennfahrer José Meiffret im Windschatten eines 300 SL als erster Mensch 200 km/h auf dem Fahrrad. Zu dieser Zeit hatte Max Hoffman in Stuttgart bereits die Erneuerung der Design-Ikone durchgesetzt, passgenau für die Open-Air-Saison 1957 lieferte Mercedes eine geöffnete Variante, den 300 SL Roadster. Dieses damals weltweit schnellste Serien-Cabrio trat 1960 auf einer Startbahn gegen drei Saab-Jets der schwedischen Luftwaffe an – und konnte im Sprintderby zwei der Jetfighter deklassieren.

Sein eigentliches Revier fand der Nachfolger des Flügeltürers aber in den Händen des Jetsets und Geldadels in den Hügeln von Beverly Hills oder auf Kudamm und Corniche: Insgesamt 1.858 Einheiten des 300 SL Roadsters legten zusammen mit dem schon seit 1954 gebauten, Vierzylinder-Typ 190 SL die Basis für bis heute über 750.000 verkaufte offene Mercedes SL. Damit liegt der Luxus-Zweisitzer im Ranking der bis heute meistverkauften Roadster auf Platz zwei hinter dem Mazda MX-5.

Gullwing-SL: Sportlicher Preis für den damaligen Neuwagen

Apropos Preise: Hier entthronte der Gullwing-SL alle anderen automobilen Kunstwerke. Schon als Neuwagen kostete er mindestens 29.000 Mark, zu einer Zeit, als die Deutschen nur durchschnittlich knapp 4.000 Mark im Jahr verdienten und ein Käfer mit 3.950 Mark in der Preisliste stand. Seit 2022 ist das teuerste Auto aller Zeiten ein Mercedes 300 SLR von 1955. 135 Millionen Euro erzielte dieses einstmals dem Mercedes-Ingenieur Rudolf Uhlenhaut dienende Coupé in einer Auktion, fast drei Mal so viel wie der vorgehende Rekordhalter, ein Ferrari 250 GTO von 1962.

Im Jahr 1963 beerbte der 230 SL (W 113) gleich zwei Vorgänger, also 190 SL und 300 SL, und sortierte sich preislich dazwischen, exakt auf dem Niveau des ebenfalls neuen Porsche 901/911 ein. Zu erstaunlichen Stückzahlen von fast 49.000 Einheiten startete die W-113-Familie (230 SL, 250 SL, 280 SL) aber auch dank feiner Formen zeitloser Eleganz inklusive des konkaven Pagodendachs aus der Hand des jungen Stardesigners Paul Bracq. Zum Allzeit-Bestseller unter den SL-Generationen entwickelte sich dann der von 1971 bis 1989 gebaute Chromkreuzer R 107, optional mit erstem V8 unter einer SL-Haube: 237.000 Einheiten unter den Typencodes 280 SL bis 560 SL rollten von den Bändern.

Heute zählt er zu den populärsten H-Kennzeichen-Klassikern. Bahnbrechende Sicherheit durch einen automatischen Überrollbügel und als Topmotor erstmals ein V12 kennzeichneten die folgende Baureihe R 129. Die Mode des Coupé-Cabrios griff der 2001 eingeführte SL mit Code R 230 auf, ehe 2014 die Baureihe R 231 zum 60. Jahrestag des 300 SL debütierte, inklusive Leichtbau-Karosserie wie ganz am Anfang. Das 70-Jahre-Jubiläum feiert Mercedes jetzt mit einem Klassiker der Zukunft, dem vielleicht finalen Verbrenner-V8 im Mercedes-AMG SL (R 232). Gleich geblieben ist seit dem Gullwing die Faszination: Der SL berührt Herz, Seele – und das Bankkonto.

 

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