Ein kleines Winzer- und Industriestädtchen als weltweit wichtigster Innovation-Hub für Mobilität? Anfang der 1960er schien es so, als sei in Neckarsulm, genauer gesagt beim Kleinwagen- und Zweiradspezialisten NSU, der Antrieb für Land-, Luft- und Wasserfahrzeuge neu erfunden worden. „Wankel-Wunder“ und „Jahrhundert-Motor“ jubelten die Medien, und Fahrzeughersteller aus fast allen Kontinenten kamen, um eine Lizenz des revolutionären Kreiskolbenmotors zu erwerben. Jener Erfindung des Ingenieurs Felix Wankel, die NSU im flotten Sportwagen Wankel Spider und im futuristisch designten Ro 80 in Serie gehen ließ.
Für das vor 150 Jahren als Strickmaschinenhersteller gegründete Unternehmen NSU war dies nicht die erste Pionierleistung. Technikgeschichte schrieb die Firma, die ihre Heimatstadt als Kürzel im Markennamen trägt, schon 1889 durch die Entwicklung des allerersten modernen Vierrad-Automobils, des Daimler Stahlradwagens. Auch ein Vorläufer des VW Käfers entstand bei NSU, und Opel verkaufte dem weltgrößten Zweiradhersteller 1936 seine Fahrradsparte. Und dann gab es da noch die „Prinzen-Garde“, jene scharf gezeichneten NSU-Nachkriegs-Kleinwagen, die sogar in Italien als „belle macchine“ gefeiert wurden. Die erste Alu-Limousine? Kam in kleiner Auflage 1913 von NSU – und 1994 als Großserienmodell A8 von Audi, gebaut gleichfalls in Neckarsulm: Die Wankelauto-Entwicklung war so kostspielig, dass NSU schon 1969 mit Audi fusionierte und unter das Dach des VW-Konzerns schlüpfte.
150 Jahre NSU
BildergalerieHeute ist NSU Geschichte, aber die Gene dieses von Ingenieursgeist getriebenen Unternehmens leben fort. „Aus Ideen entsteht Zukunft“, wirbt Audi für seinen ersten in Deutschland und im Werk Neckarsulm gebauten Stromer e-tron GT. Ein Slogan, der nicht zufällig an den legendären Werbespruch „Vorsprung durch Technik“ erinnert, mit dem zuerst die im Windkanal geformte und wegweisend sichere Wankel-Limousine NSU Ro 80 Anfang der 1970er für Furore sorgte. Und auch die Sportwagen Audi TT und TTS zitieren in ihrer Namensgebung unvergessene Racer von NSU: Die kleinen Kraftzwerge Prinz TT und TTS, die auf Rennkursen als Porsche- und BMW-Jäger Kultstatus erlangten und natürlich die erfolgreichen NSU-Rennmax-Motorräder, die in den 1950ern bei der Tourist Trophy (TT) auf der Isle of Man unter Piloten wie Werner Hass auf Kurs für gleich mehrere Weltmeistertitel gingen.
Tatsächlich war es der Sport, der bei NSU technische Entwicklungen vorantrieb und das Unternehmen auf ein neues Level beschleunigte. So qualifizierte sich das 1904 gebaute erste NSU-Motordreirad auf Anhieb für den berühmten „London-Brighton-Veteran-Run“ und 1911 – NSU war inzwischen größter deutscher Motorradhersteller und renommierter Autobauer – errangen die Neckarsulmer mit einem 10/20 PS den Silberpokal bei der berüchtigten Prinz-Heinrich-Langstreckenfahrt. Kaum zu glauben: Schon 1914 begann mit einem NSU Sport-Roadster der Export ins ferne Australien, und nur drei Jahre nach dem ersten luxuriösen Mercedes mit Roots-Kompressor, sorgte 1924 der erschwinglichere NSU „5/25/40 PS Kompressorwagen“ bei Hobbyrennfahrern für beschleunigten Puls.
Mutiges Vorausdenken war bei den Neckarsulmer Entwicklern Pflicht, und so überraschten sie schon 1922 mit damals futuristischen Finessen wie einem Kurvenlicht. Andererseits: Finanzkrisen lassen sich für derart kreative Hersteller kaum vermeiden, da erging es NSU nicht anders als Citroen oder Lancia. Eine Insolvenz von NSU im Jahr 1928 verhinderte Fiat, denn die Italiener übernahmen eines von inzwischen zwei NSU-Werken und montierten in Heilbronn bis 1969 Autos unter den Marken NSU/Fiat und Neckar. Währenddessen stieg NSU zum weltgrößten Fahrrad- und Motorradhersteller auf, und Modelle wie die NSU Quickly – als Sportmoped beworben – avancierten zum bezahlbaren Wohlstandssymbol der Wirtschaftswunderjahre in der jungen Bundesrepublik. Dann aber wollten die Menschen ein „Dach über dem Kopf“, ein richtiges Auto fahren. NSU erkannte diese Zeichen der Zeit rechtzeitig und präsentierte 1957 den vollwertigen Kleinwagen Prinz. Ein pfiffiger Flitzer, der die Herzen der Deutschen im Sturm eroberte.
Erster Imageträger wurde 1959 der Sport-Prinz, ein elegantes Coupé im Design des italienischen Edelcouturiers Bertone. NSU und Italien, das war damals Amore auf den ersten Blick. NSU-Händler durften fortan auch schnelle Alfa Romeo Giulietta verkaufen, denn Alfa hatte einen deutschen Vertriebspartner gesucht – und NSU fand so Zugang in das kleinwagenverliebte Italien, das auch den 1961 lancierten Prinz IV im Look eines Chevy Corvair in Massen abnahm und die starken NSU TT/TTS sowie die Mittelklassetypen NSU 110/1200 goutierte. Aus dem NSU Sport Prinz entstand der Spider mit dem weltweit ersten Serien-Kreiskolbenmotor. Dieses immerhin 37 kW/50 PS freisetzende Einscheiben-Wankelaggregat sicherte dem Rotarier bei Rennen reichlich sportlichen Lorbeer, allerdings verhinderten ambitionierte Preise und mangelnde Zuverlässigkeit hohe Zulassungszahlen.
Andererseits bot der von NSU 1958 erstmals ins Laufen gebrachte Kreiskolbenmotor gegenüber dem konventionellen Hubkolbenmotor beträchtliche Vorteile. Bei gleicher Leistungsstärke lässt sich der Rotarier wirtschaftlicher produzieren, ist kompakter und wiegt etwa ein Drittel weniger, ersetzen doch rotierende Scheiben das Auf und Ab der Kolben. Kein Wunder, dass fast alle namhaften Fahrzeughersteller wie Alfa Romeo, Daimler-Benz, GM, Mazda, Nissan, Porsche oder Rolls-Royce zu den NSU-Lizenznehmern zählten. Aus den Einnahmen wollte NSU die Wankel-Entwicklungskosten bezahlen, was jedoch nicht gelang. Treuester Lizenz-Geldgeber war übrigens Mazda, und die Japaner halten als einzige Marke bis heute am Wankel fest.
Der Wankel Spider war der Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Zweischeiben-Großserienmodell, der 1967 eingeführten, avantgardistischen Flaggschiff-Limousine NSU Ro 80. Abrunden sollte die NSU-Modellpalette 1969 das Mittelklassemodell K 70, das aber als traditioneller Vierzylinder zur Serienreife entwickelt wurde. Hatte die NSU-Marktforschung doch 1967 ergeben, dass die Deutschen in der Mittelklasse konservativ dachten und dem Rotarier noch nicht trauten. Gleiches galt bald auch gegenüber dem Ro 80. So plagten den NSU-Kreisläufer anfangs anfällige Dichtleisten und weitere Kleinigkeiten, die den Ruf nachhaltig ruinierten – und den Hersteller viel Geld kosteten.
Luxus-Oldtimer der Monterey Car Week
BildergalerieSchon seit 1967 suchten die Neckarsulmer Kontakte zu VW, die 1969 zur Gründung der Audi NSU Auto Union AG unter dem Dach des Volkswagenkonzerns führten. Es war eine Unternehmensverschmelzung, die für NSU eine existenzielle Krise löste. In die Ehe mit Audi brachte NSU die Mitgift des künftigen VW-Flaggschiffs K 70 und den Rotarier Ro 80. Der Preis, den NSU für die Fusion zahlte war allerdings hoch: Vier Jahre später kam das Aus für den Prinz und mit dem Ende des Ro 80 verschwand 1977 das Neckarsulmer Logo von Motorhauben. Stattdessen fand nun Audi Einlass im Premiumclub, für „Vorsprung durch Technik“ bürgten Quattro-Antrieb und Turbo-Power.
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