Von Jan Petermann, dpa, und Marco Engemann, dpa-AFX
Die Nerven liegen blank in Wolfsburg. Wieder einmal. Aber derzeit so deutlich wie vielleicht seit dem Beginn von "Dieselgate" vor fast fünf Jahren nicht mehr. VW-Konzernchef Herbert Diess gibt die Führung der Hauptmarke in der größten Autogruppe der Welt ab. Freiwillig und aus eigener Einsicht – oder muss er sie abgeben? Ist es eine letzte Warnung an den gern offensiv und schneidig auftretenden Manager, nachdem sich in den vergangenen Monaten die Probleme und Kommunikationspannen häuften? Offizielle Darstellung: Diess müsse "mehr Freiraum" für strategische Aufgaben erhalten. Inoffizielle Lesart bei so manchem: Er könne noch froh sein, wenigstens den Gesamtkonzern weiter steuern zu dürfen.
Bei Volkswagen sind sie Machtkämpfe, Interessenkollisionen und sonstige Auseinandersetzungen beinahe schon gewohnt – zum Leidwesen der Beschäftigten, die ihr Unternehmen immer wieder in ein schlechtes Licht gerückt sehen. Doch jetzt hat der oberste Manager im Streit um die Verantwortung für Fehler den Bogen womöglich überspannt.
Vor mehr als 3.000 Managern beklagte sich Diess in einer Videokonferenz über das Durchstechen sensibler Informationen zu den Schwierigkeiten, mit denen der Hersteller zu kämpfen hat. Beim Aushängeschild Golf 8 hinkt die Produktion den Zielen dramatisch hinterher, Software-Probleme plagen das Modell, viele Mitarbeiter fühlen sich mit dem steigenden Druck alleingelassen.
Auch der milliardenteure Hoffnungsträger ID.3 verzögert sich. Bei der Auto-Kaufprämie wagte sich Diess mit Forderungen weit vor, die nicht fruchteten. Dann noch die zunächst als abwiegelnd wahrgenommene Kommunikation rund um ein rassistisches Internet-Werbevideo. Und die Frage, ob in einer solchen Gemengelage Diess' angeblicher Wunsch nach einer frühzeitigen Vertragsverlängerung als angemessen erscheint.
Erst riss den einflussreichen Vertrauensleuten der IG Metall der Geduldsfaden. In einer beispiellosen Aktion sprachen sie dem Vorstand per offenen Brief über weite Strecken das Misstrauen aus. Man sei "zunehmend massiv besorgt", vermisse eine klare Krisenstrategie zu den Produktionsproblemen sowie zum öffentlichen Bild, das VW abgebe.
Aber auch Diess fühlte sich offenbar angegriffen, weil Interna gestreut worden seien. Vorletzte Woche musste er sich im Aufsichtsrat erklären. Bei dem, was am vergangenen Donnerstag in der Managerrunde dann folgte, sollen manche Anwesenden kaum ihren Ohren getraut haben.
Preisgabe von Interna: Attacke auf Aufsichtsräte
"Die Vorkommnisse im Aufsichtsrat in der letzten Woche und die Kommunikation über die Vorkommnisse im Aufsichtsrat helfen dem Unternehmen nicht", sagte Diess. "Sie sind auch ein Zeichen fehlender Integrität und Compliance. Das sind Straftaten, die im Aufsichtsratspräsidium passieren und dort offensichtlich zugeordnet werden können." Man müsse "aufpassen, dass der Aufsichtsrat, unser oberstes Gremium, im Prinzip uns da nicht in dieser Position schwächt". Das saß. Aber nicht nur bei den anderen Managern, sondern auch bei den so betriebsöffentlich kritisierten Kontrolleuren.
Ein Konzernsprecher sagte, es sei nicht Diess' Absicht gewesen, die eigenen Aufseher anzugreifen. Im engsten Machtzirkel sitzen neben Chefkontrolleur Hans Dieter Pötsch Vertreter der Familien Porsche und Piëch, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), IG-Metall-Chef Jörg Hofmann und hohe Betriebsräte. "Dr. Diess wollte nicht zum Ausdruck bringen, dass sich Mitglieder des Aufsichtsrats strafbar gemacht haben", erklärte VW. Die Äußerungen seien "im Kontext von Presseberichten getätigt worden, für deren Grundlage in wiederholten Fällen offensichtlich vertrauliche Informationen auch zu Themen des Aufsichtsrats an Medien gelangt waren".
Dennoch empfanden manche das offenbar als Untergraben der Autorität des obersten Konzerngremiums. Diess soll kurz vor dem Rauswurf gestanden haben, ist mitunter zu hören – vor allem formalrechtliche Bedenken hätten einige Entscheidungsträger noch davon abgehalten.
Die Idee, den erfahrenen Ralf Brandstätter vom Co-Geschäftsführer der Kernmarke zum operativ alleinzuständigen Chef der Fahrzeuge mit dem VW-Logo zu machen, habe es jedoch auch unabhängig von den jüngsten Zuspitzungen gegeben. Einige Kommentatoren bezweifeln zudem, ob es eine glückliche Entscheidung ist, Diess bei aller Kritik ausgerechnet in der schwierigen aktuellen Phase die Hauptmarke zu nehmen.
Kein Geheimnis ist, dass es insbesondere zwischen Betriebsratschef Bernd Osterloh und Diess seit langem kriselt. Schon beim Sparprogramm "Zukunftspakt" gerieten beide heftig aneinander, als der damals neue Markenchef gerade frisch vom BMW gekommen war. Danach herrschte über einige Zeit hinweg so etwas wie ein Burgfrieden. Im Zusammenhang mit dem schwierigen Golf-8-Anlauf – den Diess in sozialen Netzwerken als großen Erfolg darstellt, was an den Bändern teilweise Kopfschütteln auslöst – entzündete sich der Konflikt von neuem.
Spätestens jetzt dürfte dem Manager, der bisher Konzern und Kernmarke in Personalunion leitete, eine heikle Bewährungsprobe bevorstehen. Er habe seine Äußerungen als "unangemessen und falsch" entschuldigt, hieß es aus dem Kontrollgremium am Dienstag. "Die Mitglieder des Aufsichtsrates haben die Entschuldigung von Dr. Diess angenommen und werden ihn auch künftig bei seiner Arbeit unterstützen."
"Ruhigeres Fahrwasser" nötig
Der Porsche/Piëch-Clan, der von Diess' Management-Qualitäten und Zukunftsorientierung überzeugt ist, steht – vorerst – ebenfalls weiter zu dem promovierten Fertigungstechniker. "Herr Diess hat sich in aller Form entschuldigt", ließen die VW-Mehrheitseigner erklären – verbanden damit aber eine deutliche Mahnung. "Klar ist auch: Das Unternehmen muss jetzt in ruhigeres Fahrwasser kommen."
A. Kohlmann