Vom einen Band rollt ein Mercedes, vom anderen ein BMW. In der nächsten Halle nimmt ein Jaguar Formen an – und um die Ecke fertigen die Werker einen Toyota. So etwas gibt es nicht in der hart umkämpften Welt der Automarken? In Graz schon.
In der dortigen Produktion des Auftragsfertigers Magna teilen sich die Wettbewerber schon lange friedlich den Platz, um Modelle wie den Fünfer, GT-Supra oder E-Pace in ausreichender Stückzahl an die Kunden zu bringen. Schließlich hat die graue Eminenz der Branche seit 120 Jahren Erfahrung im Bau kompletter Fahrzeuge. Und insbesondere bei Allradlern halten die Österreicher eine Schlüsselstellung. Schließlich stellt Magna rund 60 Prozent aller Vierrad-Antriebe her, die global unter blumig-wechselnden Bezeichnungen der Hersteller über Stock und Stein rollen.
"Da erleben wir derzeit eine Zeitenwende", sagt Walter Sackl. Und die hänge ganz wesentlich mit der Elektrifizierung des Antriebsstrangs zusammen, so der Chef des weltweiten Produktmanagements bei Magna Powertrain. Unter Strom haben die Klettermaxen nämlich ganz neue Herausforderungen zu meistern – erhalten aber auch neue Möglichkeiten. "Im Zentrum steht die Software", so Sackl. Beim alljährlichen Innovations-Kongress haben die Grazer diese digitale Dimension gerade einigen hundert Experten aus der Industrie vorgestellt - und auf der Formel-1-Rennstrecke im nahen Spielberg auch gleich in der Praxis vorgeführt.
Technik verschiebt Grenzen der fahrtechnischen Möglichkeiten
Dem Ort angemessen geht es ziemlich flott zu. Am Steuer eines umgebauten Jaguar i-pace zeigt sich etwa, wie die neue Technik die Grenzen des fahrtechnisch Möglichen noch einmal verschiebt. Das Szenario ist vielen Autofahrern bestens bekannt: Eine Kurve wird auf rutschiger Straße deutlich zu schnell angegangen. Das Fahrzeug schiebt nach außen, Schwerstarbeit für das ESP ist angesagt. Wenn nun aber noch ein plötzliches Ausweichmanöver nötig ist und der Fahrer am Lenkrad reißt, ist auch das beste Steuergerät der Bremsanlage überfordert – und die Ausfahrt endet schnell im Graben.
Mit dem zum "Etelligent Reach"-Konzeptfahrzeug aufgewerteten Evoque bleiben auch unversierte Lenker beim gleichen Ausritt souverän in der Spur. Und das sogar mit deutlich weniger Kurbelei und Korrektureingriffen am Steuer - genau den Aktionen also, die die meisten Fahrer in solchen Fällen überfordern. Möglich machen das ein optimierter Allradantrieb, stärkere E-Motoren und eine neue Computerarchitektur.
Die Grazer haben dazu das bisher einzeln arbeitende Steuergerät der Bremsen in ein Zentralgehirn integriert. Das reagiert wesentlich schneller und feinfühliger auf die gefährlichen Situationen und hat zudem mehr Reaktionsmöglichkeiten. Im Versuchsfahrzeug arbeiten, anders als bei konventionellen Allradfahrzeugen, E-Motoren und Radbremseingriffe als ein System.
Dasselbe gilt für die dritte funktionale Komponente im Systemverbund: das Torque Vectoring an der Hinterachse mit seinen zwei Kupplungen, die variabel Drehmoment an die einzelnen Hinterräder verteilen können. Der Effekt: Zeitgleich und perfekt aufeinander abgestimmt kann etwa das kurveninnere Hinterrad gebremst und das andere mit mehr Drehmoment versorgt werden – und das Ganze aus der Kraft von zwei E-Maschinen mit je 160 kW / 218 PS Leistung.
Höherer Komfort, mehr Sicherheitsreserven
Der Mensch am Steuer kommandiert mit Lenkrad, Bremse und Gaspedal also ein Gesamtsystem. Die Sicherheitsreserven sollen laut Magna um etwa 15 Prozent höher liegen als bei Fahrzeugen ohne Brems-Integration, die möglichen Kurvengeschwindigkeiten steigen um drei bis vier Prozent. Wichtigster Effekt: Der Lenkwinkelbedarf ist um die Hälfte geringer, was Komfort und Sicherheitsreserven spürbar erhöht. Und das Rekuperieren über beide Achsen funktioniert auch noch batterieschonender. Sackl geht denn auch von einer "guten Nachfrage" für die neuen Elektro-Allradler aus. Im Newcomer Fisker Ocean wird ab Herbst dieses Jahres ein Teil der Technik bereits verbaut sein. Hergestellt wird das Elektro-SUV übrigens auch in Graz.
Die Möglichkeit, zwei starke E-Motoren an beide Achsen zu flanschen, wird bald zudem auch in einem noch raueren Umfeld zur Zeitenwende führen: Fuchs und Hase dürften sich weit ungestörter gute Nacht wünschen, wenn der vollelektrische Antrieb sich auch durch unwegsamstes Gelände flüstern kann. Das lässt sich im felsigen Gebirgswald der Steiermark bereits ausprobieren. Es geht damit durch Matschlöcher oder über steile Geröllanstiege annähernd so mühelos wie in einem mächtigen Verbrenner à la Land Rover Defender oder G-Klasse (bei Magna übrigens gern als "Graz-Klasse" übersetzt). Nur eben ohne Antriebsgeräusch.
Für die Kraftübertragung sorgen im Versuchsträger nämlich an der Hinterachse ein 160 kW-Motor (218 PS), vorn ein 120 kW-Kollege (163 PS). Je nach Akku wären damit auch längere Touren durchs Unterholz kein Problem. Und dank Kraftverteilung mit mehr als 1.000 möglichen Newtonmetern pro Rad kann das Gefährt schon aus dem Stand schwerste Aufgaben abseits jeder Straße erledigen. Ein Kriechgang für das elektrische Anfahren verbessert schon im Testgefährt die Traktion bei Langsamfahrt im Gelände. Denkbar wäre aber auch ein echtes Zweigang-Getriebe, bei dem eine klassische Geländeuntersetzung die fiesesten Hindernisse überwinden hilft. Und mittels Software ließe sich sogar virtuell eine Kardanwelle imitieren. Alle nötigen Sperren inklusive.
Derart ausgerüstet – und mit den passenden baulichen Freiheiten - wird wohl die Mercedes-Ikone G-Klasse ab übernächstem Jahr der erste rein elektrische Gelände-König werden. Made in Graz, versteht sich.