Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen macht auch vor der Abwicklung von Kfz-Unfallschäden nicht Halt. Wo bis vor wenigen Jahren noch handgeschriebene Zettel ausgetauscht wurden und Faxe heiß liefen, gibt es heute onlinebasierte Plattformen, über die die beteiligten Parteien bei der Schadenabwicklung digitale Dokumente austauschen. Versicherer oder Schadensteuerer legen einen Reparaturauftrag im System an und stellen diesen der Werkstatt über eine Plattform zur Verfügung. Die Werkstatt übernimmt den Auftrag in ihr eigenes EDV-System; Kostenvoranschläge, Sachverständigengutachten und Freigaben durch den Versicherer bzw. Schadendienstleister laufen ebenfalls digital über die Plattform. Und das alles ohne manuelle Doppeleingaben, ohne Faxe und gestapelte Ausdrucke - im Idealfall.
Dass die Realität heute häufig noch ganz anders aussieht, wurde bei der "Netzwerkstatt" in Kassel deutlich. Das vom Bundesverband der Partnerwerkstätten (BVdP) veranstaltete Treffen der an der Schadenabwicklung beteiligten Unternehmen bringt regelmäßig Versicherer, Werkstätten und Dienstleister in der Schadensteuerung zum Meinungsaustausch zusammen.
Mehr administrativer Aufwand
"Die Werkstatt wandelt heute zwischen Steinzeit und StarWars." So beschrieb BVdP-Vorstandschef Reinhard Beyer die Situation der Betriebe. Es sei zu beobachten, dass einerseits jeder Versicherer und jede Leasinggesellschaft eigene, sehr individuelle Prozesse definieren, wie im Schadenfall vorzugehen sei, andererseits die Werkstatt alle denkbaren Kommunikationswege bedienen müsse, sei es Fax, E-Mail oder die Anbindung an verschiedene Plattformen. "Wir müssen die elektronische High-Tech-Beauftragung mit digitaler Rechnungstellung ebenso abbilden wie den klassischen Telefonanruf ode eine Whats-App-Nachricht vom Kunden", so Beyer. Sein Forderung: Einheitliche Datenstandards und vereinheitlichte Prozesse. Beyer: "Ich wünsche mir einige Icons weniger auf meinen Bildschirm." Dahinter steht eine rein wirtschaftliche Frage, die - so die Meinung des BVdP - derzeit vor allem zulasten der Werkstattbetriebe gehe: Wenn der administrative Aufwand im Rahmen der Schadenabwicklung steigt, wenn die Investition in IT und Schulung der Mitarbeiter zusätzliche Kosten verursache, könnten diese Mehrkosten nicht auf die Betriebe allein abgewälzt werden. So seien beispielsweise häufig Doppeleingaben von Stammdaten nötig, weil es keine passende Schnittstelle zwischen der EDV-Lösung im Betrieb und dem Versicherer gibt.
Wettbewerb der Systeme
Mittlerweile tummeln sich mehrere Systeme am Markt, die zur Digitalisierung des Abwicklungsprozesses beitragen. Neben den Versicherern treiben vor allem die Schadensteuerer und beispielsweise die Deutsche Automobil Treuhand (DAT) das Thema Digitalisierung weiter.
Mit Silver DAT Myclaim Pro bietet die DAT ein webbasiertes Tool, das alle Beteiligten auf einer Plattform vereint. Das Programm, das auf der IAA 2013 als Ergänzung des Schadenkalkulationsprogramms Silver DAT vorgestellt wurde, steuert Schadenprozesse, indem es eine digitale Schadenakte anlegt. Je nach Rolle im Schadenprozess kann dies die Perspektive einer Werkstatt oder eines Autohauses, eines Versicherers, eines Sachverständigen oder eines Automobilherstellers sein.
Audanet heißt die webbasierte Plattform, die vom Daten- und Prozessdienstleister Audatex Autoonline gehostet wird. Die Idee dahinter: Alle fünf Entscheidungsträger, also Autofahrer, Werkstatt, Kfz-Sachverständiger, Teilelieferant und Versicherung, sollen über die Plattform kommunizieren. Kostenvoranschlag, Gutachten, Reparaturkostenübernahme oder Bestellung der Ersatzteile sollen ohne Medienbruch über das System laufen.
Mittlerweile 4.600 Werkstätten nutzen bei der Schadenabwicklung den PostMaster von Control Expert. Gutachten oder Rechnungen können damit im Dealer Management System der Werkstatt erstellt werden und über die Plattform an 130 unterschiedliche Beteiligte versendet werden, verspricht der Anbieter. Während die oben genannten Systeme eher aus der Reparaturkostenkalkulation kommen, hatte Control Expert nach eigenen Aussagen auch sehr stark die Rechnungsstellung in der Werkstatt und den elektronischen Rechnungsversand im Auge.
Auch Versicherer sind daran interessiert, die Prozesse zu beschleunigen, Dunkelzeiten im Prozess zu minimieren und den Geldfluss nach einem Schaden zu beschleunigen. Die HUK-Coburg gilt als besonders innovativ, wenn es um Digitalisierung geht. Die Versicherung nutzt zur Kommunikation die GDV-Schnittstelle der Deutschen Versicherungswirtschaft. So wickelt die HUK alle Prozesse der Schadenabwicklung mit den eigenen Partnerwerkstätten von der E-Beauftragung bis zur Kalkulation und Rechnungsstellung über diese Plattform ab.
Versicherungen mit veralteter IT
Thomas Geck, Leiter Schaden- und Prozessmanagement bei der HUK-Coburg, sieht allerdings noch viel Aufholbedarf: "Insgesamt sind wir über die Branche gesehen erst ganz am Anfang", sagte Geck in Kassel. "Bei der Kommunikation mit der Werkstatt ist unser System aber relativ weit. Dealer Management System und unser Versicherungssystem kommunizieren bereits über Schnittstellen." Der Coburger Versicherer hat in den letzten Jahren viel Geld in die eigene Infrastruktur zur Kommunikation mit den Partnerwerkstätten gesteckt. Bei vielen Versicherern seien die EDV-Systeme aber veraltet und bildeten eine in sich geschlossene Welt. Auf der anderen Seite, mahnte Geck, müsse man sich auch fragen, wie weit man es mit der Digitalisierung der Prozesse treiben wolle, die Versicherungswirtschaft dürfe nicht den gleichen Fehler machen wie die Banken: "Die Banken haben die Kunden zum Onlinebanking erzogen und jetzt suchen sie die Schnittstelle zum Kunden. Man darf den Kunden nicht verlieren." Man könne nicht alle Prozesse über eine App am Smartphone abwickeln.
Schadenaufnahme per App
Skeptisch sieht der HUK-Manager daher Smartphone-Apps, die der Autofahrer zur Schadenaufnahme nach einem Unfall verwenden kann. Konkurrent Axa experimentiert bereits mit einer solchen Schaden-App, die neben den wichtigen Notrufnummern auch eine Schadenmeldefunktion enthält. Über die Funktion "Schaden melden" können alle wichtigen Informationen an den Versicherer geschickt werden. Mit einer Touch-Skizze auf dem Bildschirm lässt sich der Schaden am Fahrzeug markieren, der Unfallort kann per GPS lokalisiert werden.
Noch einen Schritt weiter geht Control Expert mit der App Easy Claim zur Schadenaufnahme. Das Versprechen des Anbieters: Nach Schadenmeldung bekommt der Nutzer innerhalb von zwei Stunden ein Angebot für die fiktive Abrechnung seines Kfz-Schadens. Optional kann er sich auch in eine Partnerwerkstatt seines Versicherers leiten lassen.
Der Autofahrer macht an Ort und Stelle mit dem Smartphone Fotos vom Schaden und schickt sie an Control Expert. Dort werden die Bilder von Schadenexperten unter die Lupe genommen und der Schadenwert geschätzt. Schwerpunkt der App ist die fiktive Abrechnung bei kleineren Schäden an der Außenhaut des Fahrzeugs. Aus Sicht des Versicherers praktisch: Bagatellschäden könnten auf diese Weise ohne viel administrativen Aufwand reguliert werden. Gut für den Kunden: Er erhält schnell sein Geld. Derzeit nutzen laut Control Expert vier Versicherer die Anwendung. HUK Coburg gehört nicht dazu. Thomas Geck sieht die Anwendung kritisch: "Wir müssen uns als Versicherer fragen, worin unsere Leistung liegt. Wollen wir uns damit begnügen, dass der Kunde innerhalb von zwei Stunden sein Geld bekommt oder wollen wir, dass sein Auto in der Fachwerkstatt mit einem Qualitätsversprechen repariert wird?"
Kurzfassung
In der Schadensteuerung müssen Werkstätten mit vielen unterschiedlichen IT-Plattformen zurechtkommen und viele Prozesse beherrschen. Das erhöht den administrativen Aufwand - bezahlen will den aber niemand.
So will Control Expert Prozesse beschleunigen
asp: Werkstätten beklagen, dass es zu viele verschiedene Kommunikationswege mit jeweils unterschiedlichen Prozessen gibt. Ist die Klage berechtigt?Jörg Breuer: Ich kann die Perspektive der Werkstätten teilweise nachvollziehen. Jeder Großkunde, gleich ob Versicherer oder Leasinggesellschaft, definiert bestimmte Sonderprozesse. Es ist eine große Herausforderung für Werkstätten das Thema zu bewältigen. Unser Ansatz zielt daher auf eine Vereinfachung der Kommunikation: Über unser Kommunikationstool PostMaster können Werkstätten 130 Empfänger erreichen. Wir sind im Hintergrund diejenigen, die den richtigen Prozess des Versicherers oder der Leasinggesellschaft ansteuern. Für die Werkstatt ist der Prozess immer gleich und bietet somit erhebliche Handlingvorteile.asp: Wie viele Werkstätten sind an PostMaster angeschlossen?Derzeit arbeiten 4.600 Standorte von Autohäusern und Werkstätten mit dem System. Zwei Drittel sind markengebundene Werkstätten, ein Drittel klassische Karosserie- und Lackbetriebe. Wichtig für uns ist, dass wir die relevanten Werkstätten mit an Bord haben. 70 Prozent der Top-100-Autohäuser nutzen den PostMaster. Die Tendenz ist weiterhin steigend und wir wachsen monatlich im zweistelligen Prozentbereich.asp: Ist die Werkstatt-Branche im Hinblick auf Digitalisierung von Kommunikationswegen zu träge?Grundsätzlich sind diejenigen K&L-Fachbetriebe und Autohäuser, die an der Schadensteuerung teilnehmen, bereits relativ gut aufgestellt. Diese sind es gewohnt auf die Prozesse der Großkunden einzugehen und unterstützen auch die Digitalisierung. Viele Betriebe befinden sich jedoch nach wie vor noch in dem Dilemma mit alten IT- und DMS-Systemen umzugehen, was sicherlich eine Herausforderung darstellt. Insbesondere im K&L-Bereich treffen wir fast durchgängig Windows-basierte Systeme an, die wir leicht per Schnittstelle an den PostMaster anbinden können. Bei älteren Rechnersystemen benötigt man dagegen sehr spezielles IT-Know-how, um die Schnittstellen zu programmieren.asp: Seit Anfang des Jahres ist die ehemals kostenlose Nutzung des PostMaster für Werkstätten kostenpflichtig. Haben Sie viele Nutzer verloren?Seit Einführung des PostMaster haben sich die Kunden- und Systemanforderungen an den PostMaster signifikant verändert. Insbesondere die direkte Anbindung der DMS in der doch immer noch sehr heterogenen Werkstattlandschaft verlangt tiefgreifendes IT-Know-how und eine permanente Weiterentwicklung der Kommunikationsplattform. In verschiedenen Prozessen, die wir gestalten dürfen, geht der PostMaster weit über eine bloße Kommunikationslösung hinaus. So sind auch Werkstattakkreditierungen und speziell abgestimmte Freigabeverfahren im Wartungs- und Schadenbereich bereits seit Jahren möglich. Durch die deutliche Erweiterung der Funktionalitäten und Möglichkeiten der digitalen Abwicklung vereinfachen wir die internen Werkstattprozesse und unterstützen eine schnelle Vorgangsabwicklung bis hin zur automatisierten Zahlung. Unter diesen Gesichtspunkten ist es aus unserer Sicht vertretbar für die Nutzung der PostMaster-Plattform auch eine entsprechende Gebühr zu erheben. Die grundsätzliche Akzeptanz des PostMaster wird durch die Zahlen in den ersten drei Monaten belegt. Die Nutzerzahlen steigen kontinuierlich und wir konnten die wesentlichen Werkstätten und Autohäuser von den Mehrwerten des PostMaster überzeugen.asp: Mit der Smartphone-App "Easy Claim" bringen Sie die Schadenabwicklung aufs Smartphone. Was ist die Idee dahinter?Bei der Schaden-App Easy Claim geht es darum, den Versicherungsnehmer aktiv in den Schadenprozess zu integrieren. Dahinter steht die Frage, wie wir mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten den Schadenprozess verändern können. In den USA sind ähnliche Systeme seit Jahren erfolgreich im Markt.Jörg Breuer, Vertriebsleiter bei Control Expert
- Ausgabe 04/2016 Seite 10 (310.4 KB, PDF)