Von Wolfram Nickel/SP-X
Es war Sir William Lyons letzter großer Geniestreich, mit dem sich der Gründer von Jaguar vor 50 Jahren selbst ein Denkmal für die Ewigkeit setzte. Schön, schlank und schnell wie die springende Raubkatze, so hatte Lyons den Jaguar XJ gezeichnet. Ursprünglich sollte die Luxuslimousine sogar ein E-Type mit vier Türen werden, jedenfalls ähnelten frühe Entwürfe des XJ dieser Sportikone der Roaring Sixties. Ein zu extremes Konzept für die an Lounge-Komfort gewöhnte Prestigeklasse, wie Lyons rechtzeitig erkannte. Schließlich hing das Schicksal der ganzen Traditionsmarke vom Erfolg des neuen Liners ab, der auf einen Schlag gleich vier alte Modelle ablöste und mit dem sich Jaguar trotz der Eingliederung in die 1968 gegründete British Leyland Motor Corporation eine gewisse Eigenständigkeit bewahren wollte. Eine Herkulesaufgabe, die der „eXperimental Jaguar“ - dafür steht XJ - bravourös löste. Seine perfekte proportionierte Urform überlebte drei Generationen, weil sich nicht einmal Stardesigner Pininfarina an einen echten Nachfolger für die Stilikone wagte. Und auch die XJ der Serien 4 bis 7 bewahrten jene Linie, die als Inbegriff des dynamischen Traumwagens mit vier Türen galt. Erst der 2009 eingeführte, bis heute gebaute XJ wagte eine Disruption, ähnlich wie sie für die kommende neunte Generation des Jaguar-Flaggschiffs erwartet wird. Tatsächlich war es nie allein die gestreckte Silhouette einer Raubkatze im Sprung, sondern auch der außergewöhnliche Mix aus monumentalen Motoren mit bis zu zwölf Zylindern, technischen Innovationen und einem Interieur in feinster englischer Art, die den XJ zum Herzstück von Jaguar machten.
Das Licht der Oberklasse erblickte der XJ in jenem Jahr, das die Nachkriegswelt gesellschaftlich so nachhaltig veränderte wie kein anderes. So war es nur konsequent, dass William Lyons sein automobiles Vermächtnis in Paris präsentierte, dem Epizentrum der 1968er Umbrüche und Unruhen – aber auch der Haute Couture. Radikal wie die studentischen Straßenkämpfer und grazil geformt wie Twiggy als erstes gertenschlankes Supermodel auf dem Titel der Vogue stürmte der Jaguar XJ die automobile High Society, die damals geprägt wurde von konservativen Kreuzern wie der Mercedes S-Klasse W 108/109 oder schwergewichtigen Giganten á la Jaguar 420 G. Letzteren sollte der zierliche, 4,81 Meter lange Jaguar XJ ersetzen, ebenso das sportive Duo 240/340, dazu den S-Type und außerdem den Typ 420. Dafür nutzte der XJ eine verführerische Formensprache, von deren dauerhafter Modernität sich sogar der heute amtierende Jaguar-Chefdesigner Ian Callum inspiriert fühlt. Tatsächlich wurden Details wie die vergleichsweise riesigen Räder des XJ Series 1 erst Jahrzehnte später von Rivalen adaptiert. Das gilt auch für technische Highlights wie die Bremsanlage mit vier hydraulischen Scheibenbremsen und selbsteinstellender Handbremse sowie die von Beginn an vorgesehenen, aber aufs Jahr 1972 verschobenen V12-Triebwerke.
Bis dahin begnügte sich der XJ mit einem 4,2-Liter-Sechszylinder, der mit ein paar Extra-PS auch den E-Type antrieb. 137 kW / 186 PS genügten dem XJ6 für Tempo 205 und den Titel der schnellsten Sechszylinder-Limousine. Getreu dem traditionellen Jaguar-Credo "Value for Money" gab es auch eine 2,8-Liter-Basismotorisierung, die allerdings zur ersten Achillesferse der Baureihe wurde. Fehlte es dem kleinen Sechszylinder doch an Standfestigkeit. Probleme, die Peanuts waren im Vergleich zu den Herausforderungen, die Jaguar im dahinsiechenden Markenkonglomerat von British Leyland erwarteten. Sogar Lederfauteuils in Fehlfarben sollen damals in die Jaguar Saloons verbaut worden sein. Die britischen Katzen und ihre baugleichen Geschwister mit Daimler-Logo überlebten alles und präsentierten sich besonders gern auf der Frankfurter IAA, der Höhle der deutschen Luxus-Löwen. Hier – zwischen Mercedes S-Klasse und BMW 3.0 Si - zelebrierte 1973 auch William Lyons Lieblingskatze, das distinguierte XJ Coupé, sein Debüt.
Glamouröses Vierteljahrhundert
Zeitgleich präsentierte sich die ganze XJ-Baureihe als Series 2 und dies ab 1974 serienmäßigmit langem Radstand, was den Viertürer für den kleinen Club der Chauffeurlimousinen qualifizierte. Dazu passte besonders gut der 1972 in Serie gegangene 5,3-Liter-V12, für dessen Entwicklung Amerika als weltweit wichtigster Luxusmarkt den Ausschlag gab. Die prestigeträchtige Maschine bot genug PS-Reserven für alle US-Emissionsrestriktionen und ermöglichte dem XJ ein glamouröses Vierteljahrhundert im Zeichen der Zwölfender. Erst 1987 beziehungsweise 1991 zogen BMW und Mercedes nach, Audi und Rolls-Royce brauchten für ihre V12 sogar noch ein weiteres Jahrzehnt. Als Jaguar seine Alleinstellung bei den V12-Limousinen verlor, zeigten sich die Engländer abermals innovativ. So wurden die durstigen Zwölfzylinder 1997 durch sparsamere und dennoch stärkere V8-Motoren ersetzt. Ein Downsizing, mit dem allerdings die Magie der Zwölf verloren ging, weshalb die Rivalen daran festhielten. Jaguar vertraute dagegen auf die Faszination und Kraft von Kompressoren, um der Konkurrenz Paroli zu bieten.
Erregte der erste XJ12 als schnellster Viertürer der Welt die Gemüter (dafür genügten damals noch 230 km/h), sorgte die dritte Generation des XJ durch ein neues "Greenhouse" für Aufsehen. Stardesigner Pininfarina hatte sich überzeugen lassen, für den XJ eine luftigere und damit zeitgemäße Passagierkabine zu zeichnen, ehe 1986 der Jaguar XJ 40 tiefgreifendere Änderungen bewirkte. Diese vierte XJ-Serie entstand als letzter Jaguar unter dem beratenden Einfluss des Unternehmensgründers William Lyons. So bewahrte der Saloon trotz neuer Ecken und Kanten die Idee des Urdesigns, begeisterte die Käufer jedoch durch eine wieder salonfähig gewordene Qualitätsanmutung. Mit V12-Power gab es den XJ 40 übrigens erst 1993. Bis dahin blieb der Vorgänger in Produktion – unter anderem zur Freude der legendären "Queen Mum", die Jaguar-Daimler als königlichen Hoflieferanten besonders schätzte.
Mit Aluminiumkarosserie
Die Folklore der typischen XJ-Form pflegten auch die Jaguar-Flaggschiffe der Serien 5 und 6 (ab 1994 bzw. ab 1997), und sogar die im Jahr 2002 aufgelegte siebte Generation hielt daran fest. Weshalb eine technische Revolution von vielen unbemerkt blieb. Die Series 7 erhielt eine Aluminiumkarosserie, die das Gewicht signifikant reduzierte. Tatsächlich war der 5,13 Meter lange Jaguar damit sogar leichter als ein vergleichbarer Audi A8 mit Alu-Space-Frame. An Effizienz gewann der XJ überdies durch einen 2,7-Liter-V6-Diesel, der in Kooperation mit Peugeot entstand.
Back to the roots hieß es dann 2009. Mit dem Mut eines 68ers spannte der achte Jaguar XJ ein vollkommen neu gezeichnetes Aluminiumkleid über einen Saloon, in dem statt klassischer englischer Instrumente zeitgeistige TFT-Displays von Fortschritt kündeten. Hochtechnologie statt Holz – damit erinnert der Code XJ an seine experimentelle Bedeutung. Seinen 50. Geburtstag feiert der feinste Jaguar deshalb nicht nur mit Sondermodellen, sondern mit einem Sprung in die Zukunft: XJ No. 9 soll elektrifizieren.