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Ineos Grenadier: Vom Pub in die Pampa

14.07.2020 06:00 Uhr | Lesezeit: 5 min
Der Ineos Grenadier soll ein richtiger Offroader werden.
© Foto: Ineos Automotive

Alle Welt schwärmt vom SUV. Doch je mehr Geländewagen verkauft werden, desto weniger kann man sich damit ins Gelände wagen. Das will der britische Chemie-Milliardär und Abenteurer Jim Ratcliffe ändern und baut deshalb jetzt seinen eigenen Offroader – ganz im Geist von gestern.

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Von Benjamin Bessinger/SP-X

Er hat Expeditionen zum Nord- und zum Südpol überlebt, ist mit dem Motorrad durch halb Afrika gefahren und stürzt sich auf Skiern die steilsten Hänge hinunter. Doch sein vielleicht größtes Abenteuer ist noch voll im Gange. Denn im Alter von 64 Jahren ist Jim Ratcliffe unter die Automobilhersteller gegangen, um Abenteuern und Arbeitern endlich wieder einen Geländewagen zu bauen, der diesen Namen auch verdient. Schließlich hat der SUV-Boom jede Menge Softies auf die Straße gespült, klagt sein Projektleiter Dirk Heilmann und selbst Hardcore-Helden wie der Defender oder die G-Klasse seien mit dem letzten Generationswechsel immer weicher geworden.

Jim Ratcliffe ist zwar ein Abenteurer, aber kein Träumer. Schließlich zählt der 1952 in Manchester geborene Chemie-Ingenieur nicht von ungefähr zu den reichsten Männern Großbritanniens. Ratcliffe ist ein gewiefter Manager, der vor 20 Jahren die Chemiesparte des Mineralölkonzerns BP übernommen und unter dem Namen Ineos durch geschickte Zukäufe und Kooperationen mit mittlerweile über 20.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 60 Milliarden Dollar zu einem der größten Chemieunternehmen der Welt gemacht hat.

Nachdem sein dienstlicher Horizont bislang nur von Petro bis Pharma reichte, rücken jetzt auch Pkw in seinen Fokus. Denn so sehr sein Herzblut an Autos wie dem Defender hängt, so generalstabmäßig geht er beim Bau seines eigenen Geländewagens vor: Er hat die Firmensparte Ineos Automotive gegründet, hat den bislang von Köln aus für Engineering und Technologie zuständigen Anlagenbauer Dirk Heilmann zum Projektleiter bestimmt und ihm ein Budget vom einer knappen Milliarde Euro gestellt. Damit hat Heilmann nicht nur Magna Steyr mit der Entwicklung des Modells beauftrag und in Wales ein Werk für 25.000 Autos im Jahr geplant, sondern auch bei BMW eine hohe fünfstellige Zahl an Sechszylinder-Dieseln und -Benziner bestellt, die den kantigen Allradler von Ende nächsten Jahres an in Fahrt bringen sollen.

Letzter Defender als "Initialzündung" – Skizzen auf dem Bierdeckel

"Die Initialzündung dafür war tatsächlich der Tag, an dem im Januar 2016 der bei Land Rover der letzte Defender gebaut worden ist", sagt Heilmann. Denn da habe Ratcliffe, der gerne den öffentlichkeitsscheuen Milliardär gibt und sich deshalb selbst zu dieser Herzensangelegenheit nicht äußern mag, erkannt, wie dünn die Luft für diese ganz spezielle Gattung von Geländewagen so langsam wird. Und an einem denkwürdigen Abend in einem ehrwürdigen Pub in London habe er seine ersten Gedanken dazu auf die Rückseite eines Bierdeckels skizziert – und trägt diesem Moment nicht zuletzt mit dem Namen des neuen Modells Rechnung. Denn Redcliffes rustikaler Erstling für die Pampa wird genauso heißen wie der Pub, in dem seine Geburtsstunde geschlagen hat: Grenadier.

 


Ineos Grenadier

Ineos Grenadier Bildergalerie

Neben all den vielen Lifestyle-Jüngern und Großstadtmüttern, die mit ihrem SUV nur zum Sport oder vor die Kita fahren, gibt es weltweit tatsächlich noch eine ganze Menge Kunden, für die ein Geländewagen kein Accessoire ist, sondern ein lebenswichtiges Nutzfahrzeug: Ohne Autos wie den Defender, den Toyota Land Cruiser, die Mercedes G-Klasse und natürlich den Lada Niva müssten viele Farmen in unwirtlichen Gegenden Afrikas oder Australiens dicht machen, Minen und Ölfelder in den Anden oder in Sibirien hätten ernsthafte logistische Probleme und zahlreiche Expeditionen müssten umsatteln. Von Katastrophenschützern und Militärs ganz zu schweigen. Und selbst wenn er im harten Einsatz eher von Pickups wie dem Ford F-150 ersetzt wird, gehört auch der Jeep Wrangler noch in diese Kategorie der Unverwüstlichen.

Bei Land Rover war man von der Idee des Briten trotzdem wenig begeistert. Natürlich freuen sie sich in Solihull über jeden Freund der Marke und über jeden Fan des Defender, der als "Land Rover Series 1" 1948 den Grundstein für den mittlerweile wahrscheinlich angesehensten Geländewagenhersteller der Welt gelegt hat. "Doch wenn einer einen Defender baut, dann ist das Land Rover", sagen sie trotzig und liefern nach schier endloser Bedenkzeit dafür jetzt mit einer würdigen Neuauflage den unwiderlegbaren Beweis.

Allerdings zeigen die Diskussionen um den neuen Defender, wie schwierig es ist, ein legendäres, ikonisches Auto weiter zu entwickeln, ohne einerseits einen fabrikneuen Oldtimer zu bauen und andererseits das Original zu verraten. Und das war bei dem vor zwei Jahren erneuerten Wrangler oder der frisch aufgelegten G-Klasse nicht anders. Denn jeder Hersteller weiß, dass diese Autos Ikonen sind, die den Ruhm einer Marke ehren. Und alle wissen, dass sie möglichst wenig ändern dürfen, damit diese Ikonen nicht beschädigt werden. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass alle Farmer, Abenteurer, Mineure und Generäle dieser Welt nicht reichen werden, um komplette Neuentwicklungen zu finanzieren. Deshalb müssen die Nachfolger der SUV-Dinosaurier sich zumindest soweit dem Zeitgeist beugen, dass sie nicht nur im großen Stil bewundert, sondern eben auch in einem rentablen Umfang bestellt werden. Und selbst wenn man ihnen ein bisschen mehr Freiraum für Schrullen und Einschränkungen lässt und zum Beispiel niemand bei einer G-Klasse eine leicht schließende Tür erwartet, werden die Dinos auf Dauer ein paar Ecken und Kanten lassen müssen.

Genau das ist aber die Befürchtung von Männern wie Jim Ratcliffe und seinem Projektleiter Heilmann. Sie mögen partout nicht daran glauben, dass nochmal jemand ein Auto ohne unnötigen Schnickschnack baut, weil er sich frei machen kann von den Ideen des Marketings. Für zu groß halten sie die Versuchung, dass am Ende ein Lifestyle-Auto dabei herauskommt, das auf dem Boulevard punktet, auf der Buckelpiste dafür aber versagt. Deshalb nehmen sie das Schicksal der Saurier lieber selbst in die Hand.

Neuentwicklung statt Nachbau

Im ersten Anlauf wollte es Ratcliffe mit dem Defender so machen, wie er es auch mit seinen vielen Firmenübernahmen gehandhabt hat: Er kauft alte Anlagen und Pläne und schafft es irgendwie, das Geschäft unter neuen Vorzeichen wieder anzukurbeln. Doch als der Ineos-Chef kurzerhand die Montagelinie und die Lizenz für den Defender übernehmen wollte, haben die Briten den Milliardär offenbar abblitzen lassen und ihm sehr deutlich die Rechtslage erklärt. Seitdem gehen Ratcliffe und sein Projektleiter Heilmann höflich auf Distanz zum Defender. Sie sprechen nicht mehr von einem Nachbau, sondern von einer Neuentwicklung, die allenfalls vom Land Rover und seinen Artgenossen inspiriert sei, weil sie die Gene eines klassischen, robusten und schnörkellosen Geländewagens habe.

Das Ergebnis ist ein Auto, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Kreuzung aus G-Klasse und Defender, eckig, kantig, rustikal und ungeheuer praktisch. Nicht umsonst hängt das Ersatzrad von außen an der vertikal geteilten Heckklappe, nicht ohne Grund gibt es eine Leiter aufs Dach und nicht von ungefähr läuft um die ganze Karosse eine Reling, an der man zum Beispiel Werkzeug oder Ausrüstungsgegenstände befestigen kann.

Das von Magna Steyr in Graz umgesetzte Konstruktionsprinzip mit Leiterrahmen und Starrachsen ist klassisch, der Antrieb allerdings modern. Denn zu den Sechszylindern aus München kommt eine aktuelle Achtgang-Automatik von ZF, die nun allerdings mit einer Geländeuntersetzung kombiniert wird. Auch allerlei Assistenz- und Sicherheitssysteme stellt Heilmann in Aussicht, will den Fahrer aber nicht ganz aus der Verantwortung entlassen. Wo der neue Defender seinem "Terrain Response System" wie von selbst durch dick und dünn fährt, werde man im Grenadier auf abenteuerlichen Strecken schon ein wenig arbeiten müssen, um ans Ziel zu kommen.

Der Weg ist noch weit

Jetzt müssen aber erst einmal Heilmann und sein Team noch etwas arbeiten. Denn auch wenn mittlerweiledie ersten Prototypen fertig sind, trennen sie vom Serienstart noch 1,5 Millionen Testkilometer, eine noch zu errichtende Fabrik und der Aufbau einer Handels- und Service-Organisation. Vom Markenaufbau und der Steigerung des Bekanntheitsgrades ganz zu schweigen. Natürlich weiß auch der Anlagenbauer Heilmann, dass Entwicklung, Produktion und Vertrieb eines Autos mitsamt dem Aufbau einer Marke kein Kinderspiel sind. Doch wer eine komplexe Chemiefabrik aus dem Boden stampfen kann, der bekommt auch eine Fahrzeugfertigung zum Laufen, ist der Deutsche überzeugt. "Wir wären nicht einer der größten Industrie-Konzerne der Welt, wenn wir nicht wüssten, was wir uns zutrauen können." Auf eigene Faust zum Nord- und zum Südpol oder mit dem Motorrad durch Afrika, das mögen Abenteuer sein. Doch wenn Ratcliffe über den neuen Geländewagen spricht, dann klingt das Ende auch nur wie ein Geschäft – selbst wenn dabei viel Herzblut im Spiel ist.

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