Mittlerweile nutzen laut DAT etwa 14 Prozent der deutschen Autofahrer Ganzjahresreifen. Bei den zumeist milden Wintern in den meisten Regionen Deutschlands kaum verwunderlich - zumal zumindest auf den ersten Blick die Kosten für den saisonalen Räderwechsel wegfallen. Wer im Sommer einen echten Sommerreifen fahren will und im Winter einen echten Winterreifen hat dagegen zusätzliche Ausgaben: Zu Buche schlägt nicht nur die Anschaffung eines zweiten Satzes Räder, oft sogar mit teuren Leichtmetallfelgen. Hinzu kommt die Lagerung dieser zusätzlichen Räder.
Als im November 2014 der Einsatz von Reifendruckkontrollsystemen (RDKS bzw. TPMS) für alle neu zugelassenen Pkw verpflichtend wurde, kamen, abhängig von der Art des eingesetzten TPMS - aktiv messend oder indirekt, oft noch Aufwände für die Anschaffung eines zweiten Satzes Reifendrucksensoren und ein zusätzlicher Werkstattaufenthalt bei jedem Rädertausch für die Programmierung des RDKS-Steuergeräts hinzu. "Spätestens zu diesem Zeitpunkt dachten private und gewerbliche Fahrzeughalter intensiv über den Umstieg auf die verfügbaren Ganzjahresreifen im Markt nach, und die Reifenindustrie reagierte prompt mit zahlreichen neuen Angeboten", erklärt Lars Netsch von TÜV SÜD Auto Service GmbH. Doch die Wahl des "richtigen Reifens" ist nicht nur unter Kostenaspekten zu sehen. "Ganzjahresreifen bleiben weiterhin ein Kompromiss, der an die Leistungen der jeweiligen Spezialisten für Sommer und Winter nicht herankommt." So lautet das Urteil des ADAC nach dem jüngsten Vergleichstest von 2018. Die Empfehlung des Automobilclubs: Sommer- und Winterreifen sind vorzuziehen, wenn widrige extreme Wetter- und Straßenbedingungen souverän beherrscht werden müssen.
Die Verkaufszahlen bescheinigen dem Alleskönner wachsende Beliebtheit. Der Trend weist weiterhin nach oben. 2017 wurden in Deutschland laut Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV) rund 8,2 Millionen Ganzjahresreifen ausgeliefert. Das sind 16 Prozent des Gesamtmarktes im Consumer-Segment. Die BRV-Statistik zeigt, dass der Stückabsatz von Ganzjahresreifen im Consumer-Segment im vergangenen Jahr durchschnittlich um 17 Prozent gestiegen ist. Der Erfolg der All-Season-Reifen geht hauptsächlich zu Lasten des Sommerreifens. Der Absatz von Winterreifen blieb dagegen weitgehend stabil.
Sorgen um das Reifengeschäft
Keine gute Nachricht für das Reifengeschäft im Autohaus. Im schlimmsten Fall könnte sich der Anteil der Ganzjahresreifen bis 2030 auf 50 Prozent erhöhen, schätzen die Reifenexperten von RR Team, die mit ihren Services Fahrzeughersteller und Importeure sowie deren Handelsorganisationen bei der Optimierung des Reifen- und Rädergeschäfts unterstützen. Bezogen auf das Segment Winterreifen wäre das ein Rückgang von 20 Millionen verkauften Reifen. "In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass künftig 14 Millionen Kunden ohne zweiten Radsatz auf Deutschlands Straßen unterwegs sind", heißt es in der Broschüre "Wie viel sind Ihnen 7 Meter Bremsweg wert?", die RR Team im vergangenen Jahr herausgebracht hat.
Für Vielfahrer nicht billiger
RR Team hat auch die Kosten für Nutzer von Ganzjahresreifen im Vergleich zur Saisonbereifung über die gesamte Laufzeit der Pneus und bei unterschiedlichen Jahreskilometern untersucht. Auf den ersten Blick überrascht das Ergebnis: Unabhängig von der reduzierten Sicherheit fällt die Kostenbetrachtung nur bei geringer Fahrleistung zugunsten des Ganzjahresreifens aus. Ab 15.000 Kilometer Fahrleistung machen sich dagegen die Kosten für höheren Verschleiß und Verbrauch sowie die höheren Anschaffungskosten für den Ganzjahresreifen bemerkbar.
Interview
TÜV SÜD Fachmann Lars Netsch erklärt, wie es gelingt, einem Reifen flexible Eigenschaften zu verleihen und warum der Ganzjahresreifen immer ein Kompromiss bleiben muss.asp: Ganzjahresreifen werden scheinbar immer beliebter. Wie kam es zu der Entwicklung?L. Netsch: Dahinter steht letztlich der Wunsch der Autofahrer, aber insbesondere auch der Flottenbetreiber und Autovermietungen, die jährlich zweimal erforderliche "Umbereifung" möglichst zu vermeiden. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Einführung der RDKS-Systeme, die zusätzliche Kosten verursachen.asp: Welche Technologie steckt hinter dem Ganzjahresreifen?L. Netsch: Über den Erfolg eines Ganzjahresreifenkonzeptes entscheiden im Wesentlichen die Gummimischung in der Lauffläche und die Struktur des Reifenprofils. Es kommen heute intelligente Mischungen mit hohen elastischen Eigenschaften über große Temperaturbereiche sowie Laufflächenprofile mit den für die Leistungsfähigkeit auf Schneeoberflächen sehr wichtigen, zum Teil komplexen Lamellenstrukturen zum Einsatz. Ergänzend erfolgt die Integration von Kanälen für Abfuhr von Wasser und Schneematsch aus dem Laufflächenprofil in Kombination mit versteifenden Strukturen in und zwischen Profilblöcken für hohe Leistungsfähigkeit beim Bremsen und bei Kurvenfahrt.asp: Was ist die größte Herausforderung für die Reifenhersteller?L. Netsch: Bei der Entwicklung der Elastomer-Mischungen und Laufflächenprofile ist es die Auflösung des Zielkonfliktes zwischen einerseits den extremen Anforderungen für Sommerreifen, Temperaturbeständigkeit bei hoher Geschwindigkeit und Hitze und optimale Haftung auf trockenen und nassen Straßenoberflächen gegenüber andererseits der Winterreifen-spezifischen Haftung bei niedrigen Temperaturen auf allen Arten von Straßenoberflächen, einschließlich Schneematsch, festgefahrener Schneedecke und Eis. Daneben gilt verpflichtend die Erfüllung aller gesetzlichen Anforderungen, wie Bremsleistung auf nasser Fahrbahn, niedriges Abrollgeräusch und hohe Kraftstoffeffizienz, sowie zusätzlich möglichst geringer Profilverschleiß und angenehmer Abrollkomfort. Da es zwischenzeitlich aber auch definierte Leistungsanforderungen für die Wintereigenschaften gibt, gilt es eben auch diese zu erfüllen, um bei Bedarf als adäquate Winterbereifung anerkannt zu werden.asp: Was versprechen sich Autofahrer vom Ganzjahresreifen?L. Netsch: Die Kunden wünschen sich Reifen, die alle Eigenschaften von Sommer- und Winterreifen kombinieren, ihnen ganzjährige Mobilität gewährleisten und dass sie keine Beanstandungen bei Kontrollen im Straßenverkehr fürchten müssen. Nicht jedem Käufer ist aber bewusst, dass Ganzjahresreifen auf Grund der großen Bandbreite unterschiedlicher Umgebungs- und Fahrbahnbedingungen - geografisch und saisonal - immer einen Kompromiss darstellen.asp: Was ist unter Sicherheitsaspekten zum Ganzjahresreifen zu sagen?L. Netsch: Die Fabrikate der europäischen und inzwischen auch internationalen Premiumhersteller, einschließlich derer Sekundärmarken, erfüllen die bestehenden Mindestanforderungen oder übertreffen diese zum Teil deutlich; dies gilt auch für deren Wintereigenschaften. Je nach Philosophie des Herstellers oder Zielgruppe der Käufer können aber bestimmte Eigenschaften, die für den Sommer oder die für den Winter, unterschiedlich priorisiert und ausgeprägt sein. Käufer sollten immer unbedingt darauf achten, dass die Reifen zusätzlich zum M+S-Symbol mit dem so genannten "Alpine-Symbol" (Bergsymbol mit Schneeflocke) gekennzeichnet sind. Das ist das sichere Erkennungszeichen für Europäische Reifen mit "echten" und zertifizierten, schneetauglichen Eigenschaften.
- Ausgabe 10/2018 Seite 48 (204.7 KB, PDF)