Mehr als hundert Lungenspezialisten bezweifeln den gesundheitlichen Nutzen der aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide (NOx). Sie sehen derzeit keine wissenschaftliche Begründung, die die konkret geltenden Werte rechtfertigen würden, wie es in einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme heißt.
So hätten viele Studien, die Gefahren durch Luftverschmutzung zeigen sollen, erhebliche Schwächen. Zudem seien Daten in der Vergangenheit einseitig interpretiert worden. Die Lungenexperten fordern deshalb, dass relevante Untersuchungen neu bewertet werden. Zunächst hatten der Norddeutsche Rundfunk und die 'Welt' über das Thema berichtet.
Die Fachleute stellen sich damit auch gegen ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), das Ende 2018 veröffentlicht worden war. Darin hieß es: "Studien zeigen, dass die Feinstaub-Belastung durch Landwirtschaft, Industrie und Verkehr gesundheitsschädlich ist."
Anstoß für kritische Überprüfung
Außerdem werden Regularien und Anreize zur Schadstoffvermeidung gefordert. Nun heißt es von der DGP, der Deutschen Lungenstiftung und dem Verband Pneumologischer Kliniken (VPK), die aktuelle Stellungnahme werde "als Anstoß für notwendige Forschungsaktivitäten und eine kritische Überprüfung der Auswirkungen von Stickoxiden und Feinstaub" betrachtet. Sie geht auf eine Initiative von Dieter Köhler zurück, einem ehemaligen Präsidenten der DGP.
Das Papier wurde an 3.800 DGP-Mitglieder verschickt, wie eine Sprecherin der Gesellschaft mitteilte. 113 Fachleute haben die Stellungnahme unterschrieben. "Die Liste zeigt, dass die Gruppe der Forscher und Lungenärzte, die der aktuell vorherrschenden Position widersprechen, deutlich größer ist als angenommen", schreiben DGP, VPK und Lungenstiftung.
Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) - der Jahresmittelwert darf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter in der Außenluft nicht überschreiten - gelten in der EU seit 2010. Sie beruhen auf einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Auch für Feinstaub gibt es je nach Partikelgröße Grenzwerte. An Orten, wo Grenzwerte über längere Zeit deutlich überschritten werden, drohen zum Beispiel Fahrverbote für Autos mit besonders hohem Schadstoffausstoß.
Wenig Aussagekraft über Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Experten haben berechnet, dass Tausende Menschen vorzeitig an Folgen von Luftverschmutzung sterben - laut Umweltbundesamt im Jahr 2014 etwa 6.000 an Herz-Kreislauf-Krankheiten, die auf die Langzeitbelastung mit Stickstoffdioxid zurückzuführen seien. Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur EEA aus dem Jahr 2017 gibt es in Deutschland zudem rund 66.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr durch die Folgen von Feinstaub in der Luft. Solche Ergebnisse beruhen in der Regel aber auf statistischen Analysen - sie sagen wenig aus über gesundheitliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen für einzelne Menschen.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hält die Zweifel der mehr als hundert Lungenexperten für wichtig. "Der wissenschaftliche Ansatz hat das Gewicht, den Ansatz des Verbietens, Einschränkens und Verärgerns zu überwinden", sagte der CSU-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Initiative helfe mit, "Sachlichkeit und Fakten in die Diesel-Debatte zu bringen".
ADAC fordert Überprüfung der EU-Grenzwerte
Nach der Kritik von Lungenfachärzten an den Feinstaub- und Stickoxid-Grenzwerten der EU hat der ADAC eine Überprüfung gefordert. "Wenn Bürger von Fahrverboten betroffen sind, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die geltenden Grenzwerte wissenschaftlich begründet sind", sagte der Vizepräsident des Autoclubs, Ulrich Klaus Becker, am Mittwoch in München.
Die EU-Kommission müsse die wissenschaftliche Grundlage ihrer Grenzwerte rasch unter die Lupe nehmen. "Dies muss Gegenstand des Prüfauftrags für die Luftqualitätsrichtlinie sein, der im Arbeitsprogramm 2019 der EU-Kommission enthalten ist", sagte Becker.
Da aber die Grenzwerte bis auf Weiteres rechtlich bindend blieben, dürften Bund und Kommunen auf keinen Fall in ihren Bemühungen nachlassen, Fahrverbote zu vermeiden. "Die begonnenen Maßnahmen zur Erneuerung der Fahrzeugflotte, zur Stärkung des öffentlichen Verkehrs und zur intelligenten Verkehrssteuerung müssen fortgesetzt werden", forderte der ADAC-Vizepräsident. (dpa)
Uwe Blatz