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Mercedes Factory 56: Die industrielle Revolution geht weiter

15.09.2020 08:30 Uhr | Lesezeit: 5 min
Die neue Mercedes-Produktionshalle in Sindelfingen streckt sich in der Länge auf 800 Meter.
© Foto: Mercedes

Mit der Erfindung des Fließbands hat Henry Ford die Demokratisierung des Autos eingeleitet. Wenn Mercedes jetzt ein Jahrhundert später in der Factory 56 die Produktion der neuen S-Klasse beginnt, wollen die Schwaben den Fahrzeugbau einmal mehr revolutionieren und bauen dafür die meisten Bänder wieder ab.

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Von Benjamin Bessinger/SP-X

Von wegen autonomes Fahren ist Zukunftsmusik. Nicht für die neue Mercedes S-Klasse. Die ist schon autonom unterwegs, bevor sie überhaupt auf die Straße kommt - und braucht dafür nicht einmal einen Motor. Denn über weite Etappen ihrer Produktion schwebt die neue Luxuslimousine auf führerlosen Transportschlitten durch die riesige Fabrikhalle, während die Werker einzelne Komponenten montieren und aus einem Puzzle mit vielen Tausend Teilen das angeblich beste Auto der Welt bauen.

Diese Transportschlitten sind ein Highlight in der so genannten Factory 56, die Mercedes mit dem Anlauf des neuen Flaggschiffs eröffnet hat. Für über 700 Millionen Euro haben die Schwaben damit in rund zwei Jahren die vermutlich modernste Autofabrik der Welt gebaut und dabei in jeder Disziplin gewaltige Fortschritte gemacht. Die zumindest jetzt noch klinische reine und vor allem ungewöhnlich leise Halle bietet deshalb nicht nur eine vergleichsweise angenehme Arbeitsatmosphäre und wirkt gegenüber klassischen Fabriken wie ein Wellness-Tempel für Automobilwerker. Sie ist obendrein sehr viel klimafreundlicher und effizienter – und spart so in der Produktion bis zu 25 Prozent an Kosten.

Alle Möglichkeiten mit neuem Produktionskonzept 

Aber vor allem ist sie flexibler, schwärmen die Schwaben und bekommen so die Möglichkeit, auf die fast schon disruptiven Schwankungen im Markt zu reagieren. Weil heute keiner weiß, wie lange wir noch Verbrenner fahren oder wie lange der Elektro-Hype hält, ob Corona den Kfz-Absatz weiter in die Knie zwingt oder sich die Wirtschaft schneller als erwartet erholt, stehen Mercedes mit dem neuen Produktionskonzept alle Möglichkeiten offen. Deshalb kann Mercedes in der Factory 56 nicht nur alle Radstände und Motorvarianten der S-Klasse auf einer Linie bauen - den Plug-in-Hybrid inklusive. Sondern im gleichen Zyklus werden die Schwaben demnächst auch die auf einer eigenen Plattform konstruierte Elektrolimousine EQS montieren. Und zwar in jedem Verhältnis zwischen 0 und 100 Prozent. "Und wenn es sein muss, könnten wir hier mit nur wenigen Tagen Vorlauf auch A- oder C-Klassen dazwischen schieben", erläutert ein Mitarbeiter aus der Werksleitung und erteilt monatelangen Umbaupausen und starren Fließbändern eine deutliche Absage: Weil alle aufwändigen Produktionsschritte wie die Hochzeit zwischen Karosserie und Motor oder der Einbau des Cockpits auf den Roboterschlitten der sogenannten TecLines erfolgt und dort problemlos individualisiert werden kann, laufen die Förderstrecken vom jeweiligen Modell unbenommen in ihrem eigenen Takt und für die Mitarbeiter macht es keinen Unterschied, ob sie nun einen Radsatz an eine S-Klasse schrauben oder an einen GLA. Nur müssen sie dafür natürlich ins richtige Teilelager greifen.

Damit da nichts schief geht oder durcheinanderkommt, hat Mercedes auch den Materialfluss revolutioniert und an rund 400 autonome Förderfahrzeuge übertragen. Wie riesige Einkaufswagen folgen sie nahezu geräuschlos und ziemlich gespenstisch jedem einzelnen Auto durch die Fertigung und halten immer die passenden Komponenten bereit.


Mercedes Factory 56

Mercedes Factory 56 Bildergalerie

Für diese industrielle Revolution 4.0 hat Mercedes nicht nur auf der grünen Wiese eine riesige Halle aus dem Boden gestampft, die allein schon rekordverdächtig ist. Schließlich misst die längste Achse rund 800 Meter, unter dem Dach ist Platz für 30 Fußballfelder und mit dem ganzen Stahl aus der Trägerkonstruktion hätte man beinahe einen neuen Eifelturm bauen können.

Auch die Kommunikations- und Datentechnik ist speziell: Zum weltweit ersten Mal in einem Autowerk fußt der digitale Austausch auf einem 5G-Netzwerk, das Daimler dafür eigens mit Ericson und O2 installiert hat. So lassen sich alle Mitarbeiter, alle einzelnen Fertigungsschritte und Maschinen, ja selbst die Werkzeuge miteinander vernetzen.

Strenge Klimavorgaben

Und natürlich folgt die Fabrik den strengen Klimavorgaben und nimmt das für Ziel der CO2-freien Produktion vorweg: Dafür sind auf dem Dach riesige Solarfelder installiert, durch Fenster in der Decke kommt so viel Licht herein, dass die Tagschicht nicht viele Lampen braucht, und weil alle Informationen in Echtzeit online übertragen und auf Bildschirmen, Smartwatches oder Computerbrillen angezeigt werden, spart die Factory 56 allein zehn Tonnen Papier im Jahr.

Zwar schwärmt Mercedes von der Digitalisierung, doch so viel die Computer in der neuen Fabrik auch zu sagen haben, ist die Factory 56 keine Roboter-Hochburg mehr. Im Gegenteil haben die Schwaben die Automatisierung sogar zurückgefahren und setzten wieder mehr auf den Menschen. Nicht nur, weil der selbst im Hochlohnland Deutschland womöglich billiger ist. Sondern vor allem weil der schneller umlernen kann und damit die Flexibilität erhöht. Und das ist, worauf es den Produktionsplanern in derart unsteten Zeiten wie diesen am meisten ankommt.

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