Vor mehr als sechs Jahren gab es erste Vorwürfe gegen Mercedes-Benz wegen Diesel-Abgasmanipulation. Nun beginnt für den Autobauer in der Affäre ein neues Kapitel: Zahlreiche Anleger werfen dem börsennotierten Unternehmen vor, sie nicht rechtzeitig über den Skandal informiert zu haben - und verlangen deshalb für entstandene Verluste Schadenersatz von insgesamt rund 900 Millionen Euro. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart startet am Mittwoch (13.00 Uhr) in dem Fall ein sogenanntes Kapitalanleger-Musterverfahren.
Mit inhaltlichen Fragen wird sich der 20. Zivilsenat zum Beginn des Prozesses aber voraussichtlich noch nicht beschäftigen. Der Auftakt ist als Organisationstermin geplant. Mit den Parteien soll demnach eine Abschichtung des komplexen Prozessstoffs und die Strukturierung der weiteren Verfahrensführung besprochen werden. Der Musterkläger in dem Prozess - ein Privatanleger - wird von der Kanzlei Tilp vertreten. Dem Verfahren haben sich nach Angaben der Tübinger Rechtsanwälte eine große Anzahl privater und mehr als 200 institutionelle Investoren angeschlossen. Darunter sind unter anderem Banken, Versicherungen und Pensionsfonds aus Deutschland, anderen Staaten der Europäischen Union, Nordamerika, Asien und Australien. Die klagenden Anleger werfen der Mercedes-Benz Group AG vor, ihre kapitalmarktrechtlichen Pflichten verletzt zu haben.
Dieselaffäre: Investoren wurden getäuscht
Das Unternehmen habe die Verwendung von illegalen Abschalteinrichtungen in seinen Diesel-Fahrzeugen sowie die hiermit verbundenen Risiken und Kosten dem Kapitalmarkt verschwiegen und die Investoren über die wahren Umstände getäuscht. Zwischen dem 10. Juli 2012 und dem 20. Juni 2018 sei der Aktienkurs der früheren Daimler AG von mehr als 90 Euro auf unter 60 Euro gefallen. Die durch Kursverluste entstandenen Schäden sind demzufolge Gegenstand der Klagen. Mercedes-Benz stellte sich klar gegen die Vorwürfe: "Wir halten die Ansprüche für unbegründet", sagte ein Sprecher. Das Unternehmen sei seinen kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten ordnungsgemäß nachgekommen. "Unsere Kommunikation zum Thema Diesel entsprach zu jedem Zeitpunkt unserem jeweils vorliegenden Wissensstand", sagte er.
Das Musterverfahren in Stuttgart könnte sich über Jahre hinziehen. Das zeigt auch ein Beispiel aus Niedersachsen: In einem ähnlichen Prozess gegen den Volkswagen-Konzern und die Dachholding Porsche SE wird aktuell um Schadenersatz für Investoren gestritten, die nach dem Auffliegen der Diesel-Affäre bei VW Kursverluste in Milliardenhöhe erlitten. Das Verfahren geht seit 2018 nur schleppend voran. Bis zu einer möglichen Entscheidung will das Oberlandesgericht Braunschweig noch Dutzende Zeugen hören und eine Vielzahl von Dokumenten sichten. Mercedes muss sich seit Jahren mit Abgas-Vorwürfen auseinandersetzen. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hatte 2018 und 2019 gegen insgesamt mehrere Hunderttausend Fahrzeuge des Herstellers Rückruf-Bescheide wegen einer unzulässigen Abgastechnik erlassen. Seitdem klagen auch immer wieder Kundinnen und Kunden gegen den Konzern.