Es liegt in der Natur der Autoscheibe, dass sie systematisch übersehen wird. Dabei kann es sich lohnen, nicht einfach hindurchzuschauen, sondern den Blick auf die transparente Fläche zu fokussieren. Denn aus dem einst simplen Guckfenster ist längst ein komplexes Hightech-Bauteil geworden.
Der Schutz vor dem Fahrtwind bleibt weiterhin die wichtigste Anforderung an die Frontscheibe. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind aber zahlreiche weitere Aufgaben hinzugekommen: Angefangen beim Sonnen- und Lärmschutz über die Durchleitung von Funksignalen bis hin zur Unterstützung von Assistenzsystemen. Auch als Bildschirm dient die Glasfläche mittlerweile - selbst in Kompaktautos zählen Head-up-Displays in der Frontscheibe heute fast zum Standard.
Komplexität im aktuellen Autoglas-Markt
Wer sich ein Bild von der Komplexität im aktuellen Autoglas-Markt machen will, muss nur das Logistikzentrum der Werkstattkette Carglass im belgischen Bilzen besuchen. Das europaweit wohl größte Lager seiner Art führt auf 63.000 Quadratmetern rund 20.500 unterschiedliche Autogläser aktueller und älterer Pkw-Modelle - von der Frontscheibe über die Seitenscheiben bis zur Heckscheibe. Dabei gilt: Vorgehalten wird alles, was in den vergangenen zwei Jahren in Europa mindestens einmal benötigt wurde. Noch seltenere Exemplare werden bei Bedarf eingekauft.
Die hohe Zahl an Gläsern resultiert vor allem aus der wachsenden Zahl von Scheibenvarianten bei einzelnen Modellen. Für einen BWM 5er beispielsweise gibt es 39 unterschiedliche Scheiben, davon allein acht Frontscheiben, mal in Standardausführung, mal mit oder ohne Lärmdämmung, mal mit oder ohne Wärmeschutz oder Heizfunktion. Und auch für Fahrzeuge mit Head-up-Display gibt es eigene Gläser mit besonderer Form und speziellem Aufbau. Dazu kommen unterschiedlich getönte Scheiben rund ums Fahrzeug, verschiedene Heckscheiben und nicht zuletzt die in den vergangenen Jahren immer beliebter gewordenen Panorama-Glasdächer unterschiedlicher Formate.
Von der Scheibe zum Bildschirm
BildergalerieBMW ist kein Einzelfall. Allein in den vergangenen sechs Jahren hat der Anteil von Scheiben mit Sonderfunktionen stark zugenommen. Rund die Hälfte der Autogläser in Europa verfügen mittlerweile über Geräuschdämmung, 40 Prozent über einen Hitzeschutz. Wachstum gab es auch bei Heizung und Head-up-Displays. Ganz besonders zugelegt haben aber die Vorbereitungen für Assistenzsysteme: Fast alle neuen Autos verfügen über eine bis drei Frontkameras, die in einem speziellen Gehäuse hinter der Windschutzscheibe befestigt werden. Die Klammern für diese Kameraeinheiten werden schon bei der Herstellung der Scheiben angebracht. Die Videosensoren dienen als Datenlieferant für Assistenzsystem, von der Verkehrsschilderkennung bis zum Level-3-Autopiloten. Künftig wird kein Neuwagen mehr ohne Kamera auskommen.
Eigenes Qualitätskontroll-Labor
Die Assistenten stellen auch hohe Anforderungen an die Glasfertigung. Denn das Licht, das auf die Videosensoren fällt, darf durch die Scheibe nicht abgelenkt oder falsch gebrochen werden. Sonst scheitert etwa die exakte Lokalisierung von Hindernissen. Notbremsassistenten und Abstandsregler würden dann nicht oder nicht richtig funktionieren. Carglass unterhält im Logistikzentrum nicht nur deswegen ein eigenes Qualitätskontroll-Labor, in dem unter anderem Lichtbrechung, Scheibendicke und -biegung stichprobenartig gemessen werden. Auch für die Untersuchung von Head-up-Display-Funktionen gibt es ein spezielles Messgerät, das künftig wohl immer häufiger zum Einsatz kommen dürfte, denn die Projektion von Fahrinformationen in die Windschutzscheibe liegt im Trend. Nur so lässt sich die wachsende Flut an Daten, Anzeigen und Hinweisen noch ablenkungsfrei an den Fahrer bringen.
Neben der Einbindung von Assistenten und Anzeigen gibt es einen weiteren Mega-Trend bei Scheiben: ein starkes Größenwachstum. Nicht nur in Extremfällen wie dem 2,85 Quadratmeter großen Frontscheibe, die sich beim Tesla Model X bis ins Dach zieht – sondern auch bei fast allen andern Autos. 32,8 Kilogramm wiegt das kuppelförmige Glas, doppelt so viel wie eine Standard-Frontscheibe. Auch an anderer Stelle gibt es Flächenwachstum – so hat Renault für die neue Generation des siebensitzigen Espace kürzlich ein nahezu das komplette Passagierabteil überspannende Panoramaglasdach angekündigt.
Auf lange Sicht könnten die Fenster im Auto komplett zu Bildschirmen werden. Dann sieht nicht nur der Fahrer Informationen in sein Sichtfeld gespiegelt, sondern jeder Passagier liest auf dem Glas Zeitung oder schaut einen Film. Spätestens dann wird durch Autoscheiben nicht mehr einfach gedankenlos hindurchgeschaut.