Für diesen Job muss sich Jochen Hermann warm anziehen. Zumindest heute Morgen. Denn vom Sommer ist in der Eifel nicht mehr viel zu spüren, und viel lieber würde der Technikvorstand des Mercedes-Ablegers AMG jetzt auf den wohl temperierten Massagesesseln eines GLE 63 thronen oder zur Not auch in einem EQS 53 schwelgen, während er durch den Frühnebel rund um den Nürburgring stochert.
Doch stattdessen sitzt der Ingenieur hinter das Lenkrad des neuen Mercedes SL und gibt dem Roadster rund um den Ring den letzten Schliff: "Nach über drei Jahren Entwicklungszeit haben wir 99 Prozent des Weges geschafft, jetzt feilen wir am letzten Prozent, bevor wir in Bremen die Bänder anschalten und im Herbst offiziell das Tuch ziehen", sagt Hermann und treibt seinen nur noch leicht getarnten Prototypen durch die hügelige Landschaft. Lange Haube, schmale Schnauze, kurzes Heck und dazwischen endlich wieder eine stramm geschnittene Stoffmütze statt eines Kunststoff-Helmes – bei solchen Proportionen ist ohnehin nicht viel zu verbergen.
Zwar hält er das Lenkrad bei seinem flotten Ritt um den Ring locker mit einer Hand, muss nicht viel korrigieren und könnte sogar bei geöffnetem Dach lässig den Arm auf die Brüstung legen, wenn es nicht noch so lausig kalt wäre. Und sanft schmatzt der Roadster über Gullydeckel und Frostaufbrüche hinweg.
Vom Gleiter zum Fighter
Doch lässt Hermann keinen Zweifel daran, dass der SL vom Gleiter wieder zum Fighter geworden ist und sich seiner Wurzeln als Sportwagen besonnen hat:"Nicht umsonst hat erstmals AMG die Entwicklungsverantwortung übernommen." Natürlich bleibe der Roadster auch ein Luxusmodell mit all dem gebotenen Komfort, und selbstredend wolle er nicht dem AMG GT ans Leder. Schon deshalb sitzt man hier in der Mitte des Autos und nicht direkt auf der Hinterachse. Doch die Zeiten einer fast schon barocken Behäbigkeit scheinen endgültig vorbei. Und von den zwei Notsitzen im Fond, wie man sie zuletzt beim SL der Genration R129 gesehen hat, darf man sich genauso wenig täuschen lassen wie von der digitalen Cockpitlandschaft, die eine große Nähe zur S-Klasse vermuten lässt: Kaum drückt Hermann aufs den im Lenkrad integrierten Schalter für die Fahrprofile und tritt aufs Gas, spannt der SL die Muskeln an, schärft die Sinne und bringt selbst an diesem kalten Morgen das Blut auf Temperatur, so schneidig geht es plötzlich voran. Da greift Hermann dann doch lieber wieder mit beiden Händen ins Lenkrad.
Mercedes-Benz SL (2022/Vorserie)
BildergalerieTreibende Kraft ist dabei ein Motor, der sich beim ersten Gasstoß selbst verrät. Denn auch wenn Hermann noch kein Wort zum Antrieb sagen mag und das wiederentdeckte Stoffdach noch so gut isoliert ist, kann der SL seinen V8 kaum verhehlen, so markant ist dessen Grummeln und Grollen – nur die peinlichen Fehlzündungen haben sie dem 4,0 Liter-Motor offenbar aberzogen.
Neben diesem Standard-Motor mit geschätzt etwa 650 PS wird es dem Vernehmen nach noch ein oder zwei Reihensechszylinder dies- und jenseits von 400 PS geben. Später sind dann auch ein Plug-in-Hybrid wie das mehr als 800 PS starke Power-Pack aus dem viertürigen AMG GT und wohl auch eine voll elektrische Version zu erwarten, während Hermann dem bei den besonders Reichen und Schönen gern genommenen V12 eine Absage erteilt. Zu schwer, zu durstig und obendrein zu groß, verweist er den mächtigsten aller SL-Motoren ins Museum.
Noch ein paar Wochen muss Hermann frösteln und Runde um Runde mit dem Roadster durch die Eifel drehen. Dann ist es vorbei mit der Geheimniskrämerei und den Abstimmungsfahrten, die Premiere ist gefeiert und spätestens im Frühjahr kann er die dicke Jacke in den Schrank hängen und offen mit einem glaubwürdigen, womöglich gar authentischen SL in die neue Cabrio-Saison starten. Und wenn die AMG-Truppe ihren Job gut gemacht haben, dann können sich stattdessen die Macher von Autos wie einem Achter BMW, einem Porsche 911 oder einem Aston Martin Vantage warm anziehen. Selbst wenn dann endlich mal wieder richtig Sommer ist. Oder vielleicht gerade deswegen.