Mit gewisser Spannung wartet die Autobranche auf einen richtungsweisenden Vorschlag aus Brüssel: Voraussichtlich im Frühjahr wird die EU-Kommission einen konkreten Entwurf zur künftigen Abgasnorm Euro 7 vorlegen. Das wahrscheinlich 2025 in Kraft tretende Regelwerk dürfte Kfz-Herstellern unter anderem auferlegen, die Feinstaubemissionen von Autos weiter zu senken. Trotz Euro 6d und einer aktuell rasant wachsenden Zahl von E-Autos ist das Problem längst nicht vom Tisch. Die Antriebe sind zwar sauberer und damit die Feinstäube aus dem Verbrennungstrakt weniger geworden, doch der Abrieb von Reifen und Bremsen bleibt ein riesiges und weiter ungelöstes Problem. Mediziner, Wissenschaftler, Umweltverbände und behördliche Institutionen weisen immer wieder auf Gefahren für Umwelt und die menschliche Gesundheit durch feine und ultrafeine Partikel hin. Nun dürfte die EU im Rahmen des Green Deals das Thema der erweiterten Emissionen von Automobilen in den Mittelpunkt ihrer Euro-7-Pläne rücken und damit den Kampf gegen Feinstaub auf Reifen und Bremsen ausweiten. Speziell für letztere wurden einige Lösungen bereits zur Serienreife entwickelt. Größere Verbreitung werden sie allerdings erst finden, wenn das verbindliche Regelwerk der EU ihren Einsatz auch wirklich erfordert. Die Zulieferindustrie wittert ein entsprechend großes Geschäft und bringt sich bereits in Stellung, den OEMs passende Lösungen zu unterbreiten. Dabei gibt es mehrere unterschiedliche Ansätze, dem Bremsenabrieb zu entgegnen – mit Vor- und Nachteilen und unterschiedlichen Kosten.
Zu den Profiteuren von Euro 7 könnte das Unternehmen Tallano aus Frankreich mit seiner Absaugtechnik Tamic zählen. Die Idee zu dieser Lösung kam Firmengründer Christophe Rocca-Serra, als er sich bei Kundenbesuchen über schmutzige Felgen an seinem Auto ärgerte. Von 2012 an arbeitete er mit einem Freund daran, das Schmutzproblem anzugehen, wobei sich schnell zeigte: Der Feinstaub der Bremsen ist weniger ein ästhetisches als vielmehr ein gesundheitliches Problem. Die Lösung für beides ist eine aktive Absaugtechnik, die den Staub in den Bremsen direkt im Augenblick der Entstehung einfängt. Die Bremsbelege müssen hierfür über einen Absaugkanal verfügen, der über einen Schlauch mit einem Ministaubsauger verbunden wird. Im Motorraum befindet sich eine elektrisch angetriebene Turbine, die während der Bremsvorgänge den Saugdruck erzeugt, um den Feinstaub in einen Filter zu leiten. Bis 90 Prozent das Bremsstaubs soll so durch das Tamic-Prinzip absorbiert werden, was zugleich für einen deutlichen Rückgang der gesamten Feinstaubemissionen sorgt. "Bei Autos haben wir im Vergleich zu den aktuell erlaubten Feinstaubgrenzwerten des Motors im Schnitt um das Sechsfache höhere Feinstaubemissionen durch Bremsen gemessen", sagt der aus Deutschland stammende Geschäftsführende Partner Bert Stegkemper, der 2014 bei Tallano eingestiegen ist. Mit überschaubarem Aufwand wäre das Tamic-System in herkömmliche Bremsanlagen integrierbar und könnte so einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung der Feinstaubemissionen im Straßenverkehr leisten. Es gibt keinen nennenswerten Anstieg der ungefederten Massen, die Elektronikteile sind kompakt, der Wartungsaufwand ist gering. "Alle 30.000 Kilometer muss der Filter gewechselt werden. Der wird dank Bajonettverschluss mit einem Handgriff abgeschraubt", so Stegkemper. Die Mehrkosten für den Autohersteller beziffert er mit durchschnittlich rund 150 Euro pro Auto.
Auch wenn die Kosten moderat erscheinen mögen, gibt es bislang noch keinen Bremsen- oder Autohersteller, der das Tamic-System nutzt. Doch der mit Euro 7 steigende Druck zur Feinstaubreduzierung spielt Tallano in die Karten. 2021 hat das schon etwas in die Jahre gekommene Start-up eine weitere Finanzierungsrunde erfolgreich abgeschlossen und führt laut Stegkemper aktuell mit verschiedenen Playern Gespräche. Dazu gehören auch Bahnbetreiber, denn das Tamic-System kann ebenso Eisenbahnen und Metrozüge sauberer machen. Hier sieht Stegkemper ein sogar großes Marktpotenzial, denn für Kommunen und Bahnbetreiber wächst der Druck, Feinstaubelastungen in Metrostationen oder Bahnhöfen zu verringern. Anders als bei Autos wäre die Tamic-Technik in bereits bestehenden Zügen sogar nachtrüstbar.
Tallano wird seine Reinigungstechnik für Kraftfahrzeug-Bremsen allerdings nicht selbst herstellen. Das Start-up sieht sich als Innovationsbereitsteller mit einer Reihe von Patentrechten, jedoch nicht als Umsetzer. „Wenn morgen ein Zulieferer der Autoindustrie vorbeikommt und uns mit entsprechendem Hebel kaufen will, dann werden unser Know-how und einige Mitarbeiter an diesen übergehen. Entscheidungen sind noch nicht gefallen. Ich glaube, da wartet man noch ein bisschen auf die Regulierung", so Stegkemper.
Dass der Vorschlag der Europäischen Kommission den Spielraum bei den Feinstaubemissionen weiter einengen wird, erwartet auch der deutsche Bremsscheibenhersteller Buderus Guss: "Hinsichtlich der Feinstaubemissionen wird Euro 7 Anforderungen an das Bremssystem stellen, die sich nur mit technischen Zusatzlösungen erreichen lassen werden", bestätigt auch Olaf Ley, Leiter Vertrieb und Anwendungsentwicklung des im hessischen Breidenbach ansässigen Zulieferers. Der Bremsscheibenhersteller stellt bereits seit Jahren als serienreife Lösung des Problems die iDisc her, die bereits heute die Feinstaubemissionen von Pkw-Bremsen auf Euro-7-Niveau senken können. Anders als bei Tallano den Feinstaub direkt nach seiner Entstehung zu absorbieren, werden bei der iDisc Bremsenabrieb und damit die Feinstaubbildung bereits in der Entstehung drastisch verringert. Möglich macht dies eine im Kern normale Grauguss-Bremsscheibe, auf die jedoch eine Hartmetallschicht und optional Titancarbid aufgebracht wird. Die so entstandene Oberfläche ist sehr hart und damit besonders abriebfest. 80 bis 90 Prozent weniger Feinstaubemissionen sollen dadurch anfallen, was in etwa dem Niveau der Lösung von Tallano entspricht.
Anders als die Lösung aus Frankreich ist die iDisc schon einige Jahre am Markt und aktuell für einige Modellen von Audi und Porsche als Option verfügbar. Beim Porsche Taycan kostet sie als "Surface Coated Brake" stattliche 3.000 Euro Aufpreis. Entwickelt wurde diese erste iDisc-Generation ohnehin nicht vordergründig als Lösung zur Feinstaubreduzierung, sondern als eine Performance-Bremse, die als günstige Alternative zur deutlich teureren Keramikbremse angeboten wird. "Neben Vorteilen in der Performance, bei den Feinstaubemission und dem Korrosionsverhalten bietet die iDisc eine deutlich längere Haltbarkeit. Sie kann als Lebensdauerbauteil ausgelegt werden und leistet somit einen Beitrag zur Nachhaltig- und Wirtschaftlichkeit des Fahrzeugs über dessen Lebenszeit", preist Olaf Ley seine Bremsscheiben an. Die verringerten Feinstaubemissionen wurden für die beschichteten Bremsen marketingtechnisch jedoch bisher kaum berücksichtigt. Das will Buderus Guss bei der iDisc II ändern. Aktuell hat diese neue Generation die Vorentwicklung verlassen, zudem werden mit ersten Kunden Gespräche hinsichtlich einer Serienentwicklung vor allem auch in Hinblick auf Euro 7 geführt. "Bei der iDisc II haben wir unsere Hausaufgaben auf der Kostenseite gemacht. Die Vorgängergeneration hat nicht die Verbreitung im Volumensegment erlangt, weil hier ein recht kostspieliges Beschichtungsverfahren angewendet wird. Wir haben jetzt ein alternatives Beschichtungsverfahren. Außerdem haben wir eine Stufung, einen Baukasten. Wir bieten nach wie vor eine Performance-Variante an, die von den Eigenschaften nah an der ersten Generation ist. Dann haben wir eine Advanced-Variante für leistungsstarke Verbrenner und Hybridfahrzeuge. Außerdem gibt es eine E-Mobilitätsvariante mit einschichtiger Beschichtung für E-Fahrzeuge. Hier liegt der Fokus auf Korrosionsschutz. Rost ist bei E-Autos ein Riesenthema, da Bremsscheiben an der Hinterachse wenig im Einsatz sind." Bei VW umgeht man aktuell dieses Korrosionsproblem, indem an E-Autos wie ID.3 und ID.4 Trommelbremsen an der Hinterachse montiert werden.
Buderus Guss führt vor dem Hintergrund der Euro-7-Verschärfung aktuell mit mehreren Autoherstellern Gespräche. Doch auch die iDisc II wird nicht ganz billig und deshalb wohl nicht für jedes Modell die optimale Lösung sein. "Hier gibt es unterschiedliche Philosophien, je nachdem ob der Hersteller kostengetrieben ist oder sich zum Beispiel einen grünen Daumen auf die Fahne geschrieben hat." Konkrete Preise nennt Ley keine, doch sollen die aufwendig beschichteten Scheibenbremsen wohl zwei- bis dreimal teurer als konventionelle Graugussscheiben sein. Es bleibt abzuwarten, ob Automobilhersteller erst mit dem Zwang der Euro 7 die neuen bremsstaubreduzierenden bzw. -vermeidenden Technologien einsetzen oder ob sie als Vorreiter in Sachen Umwelt unabhängig von gesetzlichen Anforderungen diese einsetzen. Für beide Szenarien gibt es entsprechende Lager bei den OEMs. Elektroautos werden aufgrund ihres systembedingen Bremsverhaltens vermutlich keine Sauberbremse benötigen, wohl aber eine rosthemmende Beschichtung der wenig beanspruchten Reibflächen.
Tallano und Buderus Guss sind nicht die einzigen, die an Lösungen zur Reduzierung von Bremsenfeinstaub arbeiten. Unter anderem hat Filterspezialist Mann+Hummel ein passives Filtersystem entwickelt, bei dem sich die Feinstäube in einem Gehäuse an der Oberseite der Scheibenbremse sammeln. Ähnlich wie Buderus Guss setzt die im sächsischen Freital ansässige Firma C4 Laser Technology auf ein Beschichtungsverfahren für Bremsscheiben, welches die Entstehung der Bremsabriebfeinstäube verringern soll. Schließlich entwickelt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Rahmen des Projekts Zedu-1 eine mechanische Scheibenbremse mit Ölbad-Lagerung. Das geschlossene System soll den Abrieb zu sogar 100 Prozent herausfiltern. Es dürfte spannend werden, welche Lösungen das Rennen machen, wenn hinsichtlich Euro 7 Klarheit besteht.