Von Marco Hadem, dpa
Der Aufsichtsrat hat entschieden: Matthias Müller soll als neuer VW-Chef die Abgas-Affäre bei Europas größtem Autobauer in den Griff bekommen. In einer mehr als siebenstündigen Sitzung auf dem Stammgelände in Wolfsburg wählte das 20-köpfige Gremium den 62-Jährigen zum Nachfolger von Martin Winterkorn. Der bisherige VW-Chef war am Mittwoch infolge des weltweiten Abgas-Skandals von seinem Posten zurückgetreten (wir berichteten).
Mit der Entscheidung will VW nach einer Woche voller Pleiten und Pannen die Trendwende schaffen. Davon ist der Konzern aber noch weit entfernt. Pünktlich zur Sitzung in Wolfsburg veröffentlichte in Berlin Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) am Freitag neue Details zu den Abgas-Manipulationen in Deutschland.
Vorsitzende Müller im Anschluss an die Sitzung. Er kündigte umgehend eine "schonungslose Aufklärung und maximale Transparenz" an. Volkswagen werde unter seiner Führung "die richtigen Lehren aus der aktuellen Situation ziehen". Betriebsratschef Bernd Osterloh sagte: "Ich freue mich auf einen Teamplayer an der Spitze." VW brauche für einen Weg aus der Krise einen "grundlegenden Kulturwandel".
Auf Müller wartet ein Scherbenhaufen - oder eine "nie dagewesene Aufgabe", wie er es nennt. Der leidenschaftliche Autonarr muss nun schnell Akzente setzen, um das bei Kunden, Aktionären, Justiz und Mitarbeitern verloren gegangene Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Konzerns zurückzugewinnen. "Wir sind überzeugt, dass er die richtige Persönlichkeit an der Spitze ist", sagte Großanteilseigner Wolfgang Porsche. Die Familien Porsche und Piëch stünden auch in der gegenwärtigen Krise "ohne Wenn und Aber zu VW".
Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigte die Nachricht aus Berlin. Von den Manipulationen bei Abgasmessungen an Dieselwagen sind nach Angaben Dobrindts mindestens 2,8 Millionen Fahrzeuge des Konzerns in Deutschland betroffen - darunter sowohl Pkw als auch leichte Nutzfahrzeuge. Laut Volkswagen sind weltweit rund elf Millionen Autos mit der manipulativen Software ausgestattet.
Neue Nordamerika-Region
Nicht nur der VW-Chefposten ist im Zuge des Wolfsburger Personalkarussells neu besetzt. Um dem bereits vor der Krise arg schwächelnden US-Markt neues Leben einzuhauchen, werden die Märkte USA, Mexiko und Kanada in der neu geschaffenen Region Nordamerika zusammengefasst. Mit dem bisherigen Skoda-Chef Winfried Vahland steht dem Marktbereich auch eine neuer Chef vor. Der infolge des Skandals in die Kritik geratene US-Regionalchef von Volkswagen, Michael Horn, bleibt im Amt. An die Stelle Vahlands bei Skoda soll der bisherige Vertriebschef von Porsche, Bernhard Maier, treten.
Überraschend verlässt Vertriebsvorstand Christian Klingler den VW-Konzern. Der 47-Jährige gehe im Rahmen des geplanten Umbaus "und aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die Geschäftsstrategie mit sofortiger Wirkung", teilte das Unternehmen mit. Das aber, so heißt es, habe nichts mit dem Abgas-Skandal zu tun, sondern sei bereits länger geplant gewesen. Müller übernimmt Klinglers Aufgaben zunächst mit.
"Die Testmanipulationen bedeuten für Volkswagen ein moralisches und politisches Desaster", sagte Berthold Huber, Interimsvorsitzender des Präsidiums. Das rechtswidrige Verhalten habe Volkswagen ebenso geschockt wie die Öffentlichkeit. "Wir können uns nur entschuldigen und Kunden, Öffentlichkeit, Behörden und Anleger darum bitten, dass wir die Chance zur Wiedergutmachung erhalten." Huber sagte, dass Anwälte der Kanzlei Kirkland & Ellis beauftragt worden seien. Die Kanzlei hatte schon den britischen Ölkonzern BP nach der Explosion der Ölplattform "Deepwater Horizon" im Jahre 2010 vertreten.
In den manipulierten VW-Motoren wird eine Software genutzt, die die gemessenen Abgaswerte im Testbetrieb künstlich nach unten korrigiert. Infolge des Skandals war in dieser Woche der Kurs der VW-Aktie massiv eingebrochen. Zum Handelsschluss am Freitag fehlte dem Papier rund ein Drittel seines Wertes vom Wochenauftakt. Zudem drohen dem Konzern weltweit Prozesse und Milliardenstrafen.
Blume übernimmt Porsche-Vorsitz
Müller war bereits im Frühjahr von VW-Patriarch Ferdinand Piëch als Winterkorn-Nachfolger ins Gespräch gebracht worden. Sein Nachfolger bei dem Sport- und Geländewagenhersteller wird Produktionsvorstand Oliver Blume (47).
Dagegen ist die Zukunft Winterkorns als Vorsitzender der Porsche-Dachgesellschaft Porsche SE unwahrscheinlich - nach dpa-Informationen ist dies keine realistische Option. Im Aufsichtsrat scheinen die Meinungen darüber ebenso weit auseinanderzugehen wie in der Gerüchteküche. Der Porsche SE gehört die Mehrheit an Volkswagen. Zuvor hatte "Spiegel Online" berichtet, dass Winterkorn dort im Amt bleiben wolle.
Der Abgas-Skandal hat inzwischen neben VW und Audi auch die Töchter Skoda und Seat erfasst. Zudem steht die Frage im Raum, ob andere Hersteller ebenfalls getrickst haben könnten. BMW, Daimler, Ford, Opel und Fiat betonten, sich an alle gültigen Vorgaben zu halten.
"Wir stehen am Ende einer Woche, die uns allen unter die Haut gegangen ist", sagte Niedersachsens Ministerpräsident und Kontrolleur Stephan Weil (SPD). Wie Müller dankte Weil Winterkorn erneut für dessen Arbeit der vergangenen Jahre. Es sei eine "gute Fügung, dass der neue Vorstandsvorsitzende am neuen Konzept mitgearbeitet hat". (dpa)