Von Peter Maahn/SP-X
Der amerikanische Volkswagen-Chef Hinrich J. Woebcken muss sich wohl ein wenig wie ein Elfmeter-Schütze fühlen, der zum alles entscheidenden Schuss anläuft. Einem, der einfach sitzen muss. Geht er daneben, droht der Abstieg aus der ersten Liga. Das historische Santa-Monica-Pier, Endpunkt der ebenso berühmten Route 66, ist die Arena für den Showdown von VW in den USA. Wird der hier erstmals gezeigte VW Atlas ein Flop, war's das wohl für die Deutschen im zweitgrößten Automarkt der Welt. Nur ein neues SUV, das sich in die Herzen der kritischen Amerikaner fährt, kann den Ärger und die Enttäuschung über den Diesel-Betrug vielleicht vergessen machen.
So gesehen ist die Wahl des Namens wohl nicht zufällig. In der griechischen Sage muss Muskelmann Atlas all die Last der Welt auf seinen Schultern stemmen. Eine ähnlich tragende Rolle ist in den USA dem mit 5,04 Metern Länge ebenfalls recht imposanten rollenden Atlas zugedacht. Er muss die Wende schaffen und die Amerikaner davon überzeugen, dass VW ehrliche und gute Autos baut.
Natürlich muss ein neues Modell für den so wichtigen US-Markt ein lupenreines SUV sein, bevorzugt vor Ort gebaut. Hier hatte VW bislang im Gegensatz zur heimischen und asiatischen Konkurrenz nichts zu bieten, das böse Wort vom "Verschlafen" machte die Runde. VW setzte viel zu lange auf zwei normale Pkw-Modelle: Jetta und US-Passat verkauften sich anfangs glänzend, konnten aber nur solange punkten, bis die Diesel-Bombe platzte. Da die Limousinen oft mit der Mogelpackung im Motorraum unterwegs waren, brach der Absatz der beiden Modelle dramatisch ein.
Dritte Sitzreihe im gewaltigen Kofferraum
VW ist aus der Schockstarre erwacht, beschleunigte die Entwicklung des Atlas, der genau ins Beuteschema der derzeit so kauffreudigen Amerikaner passt. Hochgebaut für guten Rundumblick dank erhabener Sitzposition, ein Paket an Komfort, kombiniert mit einem gewaltigen Kofferraum, in dem sogar noch Platz für eine dritte Sitzreihe bleibt. Trotz Geländewagen-Look ist Allrad nicht zwingend nötig, wird aber gern genommen. Natürlich ist auch eine serienmäßige Automatik Pflicht. Und schließlich muss sich so ein SUV-Musterknabe auch mit der Außenwelt verständigen können. Vernetzung per Smartphone ist das Stichwort. Der neue VW soll außerdem bei den Preisen mit seinen zahllosen Rivalen auf dem US-Markt mithalten können. Was nahelegt, dass er für rund 30.000 Dollar (ca. 27.500 Euro) den Besitzer wechselt. Offiziell soll der Preis des Atlas in gut zwei Wochen bekannt gemacht werden.
All diese Voraussetzungen bietet der Neuling, von dem US-Chef Woebcken sagt: "Dies ist der größte und markanteste Volkwagen, den wir je in den USA gebaut haben." Eine Erkenntnis, die sich schon aus dem Datenblatt ergibt. Sprung über die Fünf-Meter-Marke, fast zwei Meter breit und 1,77 Meter hoch. Zu groß für mitteleuropäische Straßen und verwinkelte Altstädte. Deshalb wird der Atlas nur in den USA, später auch in Russland und Nahost angeboten. Die autohungrigen Chinesen bekommen mit dem Teramont ihr eigenes Modell, das dem Atlas aber ähnelt.
Auch wenn der Atlas nicht im Heimatland rund um Wolfsburg in den Schaufenstern stehen wird, ist er durchaus wegweisend. Das neue VW-Gesicht ist geprägt vom breitgezogenen Grill mit LED-Leuchteinheiten als seitliche Begrenzungen. Eine scharf gezeichnete Gürtellinie teilt die Seitenansicht und wölbt sich dabei recht markant über die beiden Radhäuser. Die Motorhaube ist etwas kürzer geraten als bei manchen Rivalen. Dafür trägt das Heck den klassischen Kombi-Look, der auch in der SUV-Gilde gebräuchlich ist. Keine Experimente also beim Design, bei aller Modernität herrscht sichtbare Gediegenheit auf großem Raum. Da Neuwagenkäufer meist etwas älter und demnach vornehmlich konservativ gepolt sind, darf sich VW diesem Trend nicht entziehen. Ein großer SUV muss durch seine Dimensionen punkten und nicht durch ein extravagantes Kleid.
Ähnliches gilt für den Innenraum. Alles muss passen, einfach zu bedienen sein und darf die Klientel nicht überfordern. VW liefert das mit dem bewährten Cockpit-Konzept, das in vielen Modellen Dienst gut. Die Zentralarmatur kann vom Fahrer nach eigenem Gusto gestaltet werden, auf dem großen Navi-Monitor können weitere Apps mittels einer Kacheloptik leicht aktiviert werden. Natürlich geht der Atlas auch online, arbeitet mit allen Smartphone-Systemen zusammen. Die Materialien machen einen durchaus gediegenen Eindruck, auch wenn sie nicht die Hochwertigkeit erreichen, die der viel teurere Touareg seinen Insassen bietet.
Ausgeklügelt ist die Nutzung des langen Innenraumes. Die im Wagenboden versenkbare dritte Sitzreihe schafft Platz für zwei weitere erwachsene Mitreisende. Der dann noch verbleibende Kofferraum entspricht immerhin dem eines Kompaktmodells, auch wenn VW noch keine genauen Daten nennt. Der Zugang für die hinteren Hinterbänkler wird übrigens durch ein klug konstruiertes Schrägstellen der Rücksitzlehnen in Reihe Zwei erleichtert, selbst groß gewachsene Mitfahrer müssen sich nicht verrenken. Bleiben die Zusatzsitze leer, kann die zweite Reihe um 20 Zentimeter nach hinten verschoben werden, was fürstliche Beinfreiheit im Fond schafft. Ist nur das Frontgestühl belegt, wächst der Laderaum um ein Vielfaches, es werden wohl um die 2.000 oder mehr Liter sein, auf denen sich Kisten, Möbel, Freizeitgeräte oder der Wocheneinkauf für eine Großfamilie ausbreiten können. Das steigert natürlich den Nutzwert des Atlas und trifft den Geschmack der US-Kunden.
Zwei Benziner mit bis zu 280 PS
Im Motorraum findet sich Vertrautes, aber natürlich keine Dieselmotoren. Der kleinere der beiden Benziner hat zwei Liter Hubraum, vier Zylinder und leistet dank Turboaufladung 175 kW / 238 PS. Dann hat der Atlas Frontantrieb. Allrad auf Wunsch ist nur in Verbindung mit dem 3,6-Liter-Sechszylinder (206 kW / 280 PS) zu haben. Beide haben serienmäßig eine Achtgang-Automatik an Bord. Bestellbar sind moderne Assistenzsysteme wie automatische Notbremsung, Abstandsradar oder aktives Spurhalten. Natürlich kann der Riese auch halbautomatisch eingeparkt werden.
Ein großes SUV zu einem attraktiven Preis also, das durchaus das Zeug zum Erfolgsmodell an Bord hat. Zusammen mit dem im Januar in Detroit debütierenden Tiguan (mit verlängertem Radstand und ebenfalls bis zu sieben Sitzen) sollte das Duo die Wende stemmen. Ein VW-Manager mit US-Pass begründet den Optimismus: "Schließlich sind wir Amerikaner nicht nachtragend."