Der Anschnallgurt wird anpassungsfähiger. ZF Passive Safety Systems hat nun ein neuartiges Gurtsystem vorgestellt, das seine Rückhaltekraft flexibel am jeweiligen Insassen ausrichtet und so Unfallfolgen abmildern soll. Kernelement ist ein Gurtstraffer mit mehrfach schaltbarer Kraftbegrenzung (MSLL), der die Rückhaltekräfte über den gesamten Crashverlauf variiert.
Das System erkennt über Innenraum-Kameras und Sitzbelegungssensoren die Sitzposition und Statur der Insassen. Hinzu kommen Daten aus der Verknüpfung mit den aktiven Sicherheitssystemen und ihren Sensoren außerhalb des Fahrzeugs – von der Kamera bis zu Radar. So können Richtung und Schwere des Unfalls prognostiziert werden, was eine exaktere Steuerung von Gurt- und Airbag-Systemen ermöglicht.
Der mehrfach schaltbarer Kraftbegrenzung soll vor allem kleine und leichte Personen bei mittelschweren Unfällen mit Aufprallgeschwindigkeiten bis 35 km/h besser schützen. Profitieren sollen zum Beispiel Kinder auf dem Rücksitz oder ältere Menschen, die aufgrund altersbedingt veränderter Knochenstruktur ein höheres Verletzungsrisiko haben können. Darüber hinaus soll das System potenziell auch die Insassensicherheit für schwergewichtige Personen bei Aufprallgeschwindigkeiten oberhalb 56 km/h erhöhen.
Fragen an ...
In den kommenden Jahren stehen Verschärfungen bei den EuroNCAP-Crashtests und auch bei den gesetzlichen Regelungen an. Was genau ist geplant?
Antwort: Es werden zahlreiche Richtlinien auf den neuesten Stand gebracht. Dabei geht es vor allem darum, Unterschiede bei Gewicht, Statur und Geschlecht stärker zu berücksichtigen. Bisher sind Airbags und Gurte an abstrakten Normpersonen ausgerichtet. In Wahrheit sitzen aber ganz unterschiedliche Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, Dicke und Dünne im Auto, die alle möglichst gut gesichert werden müssen. Bei einem Kind sollte man den Gurt beispielsweise nicht so stark straffen wie bei einem Erwachsenen, da der Körper nur geringe Kräfte aufnehmen kann. Die Rückhaltesysteme werden daher künftig steuerbar sein.
Wie lassen sich Statur und Gewicht von Insassen denn feststellen?
Wir haben eine Software entwickelt, die mit Kamerahilfe einschätzt, wie groß und wie schwer eine Person ist. Und auch, wo sich ihre Gliedmaßen befinden. Das System kann zum Beispiel erkennen, wenn der Fahrer mit der rechten Hand das Infotainment bedient oder den Kopf zu den Fondinsassen dreht. Auf dieser Basis können wir auch prognostizieren, wie sich die Gliedmaßen im Crashfall verhalten. Über diese Prognose errechnen wir, wie sich der Airbag aufblasen muss, damit er den Insassen während des Aufpralls sehr gut schützt. Auch das eingesetzte Gasvolumen sowie die Airbag-Abström-Öffnungen – und damit die Härte des Airbags - selbst sind künftig steuerbar.
Wie arbeiten Airbag und Gurt zusammen?
Der Gurt macht immer die größte Arbeit der Verzögerung, der Airbag nimmt dann die Spitzen weg, federt noch einmal weich ab. Es ist wichtig, das Zusammenspiel zu beherrschen und beide Systeme optimal aufeinander abzustimmen. Hinzu kommt die Verknüpfung mit den aktiven Sicherheitssystemen und ihren Sensoren – von der Kamera bis zu Radar. Für uns ist es beispielsweise wichtig zu wissen, von welcher Seite ein Aufprall kommt. Wenn Sie heute beispielsweise auf einen Lkw auffahren, haben Sie über den Beschleunigungssensor ein Signal – und der Airbag löst aus. In Zukunft wird es so sein, dass das System beispielsweise erst einmal detektiert, dass der Beifahrersitz unbelegt ist. Dann nehmen wir die Signale aus den Assistenzsystemen und sehen vielleicht, dass es sehr viel schlauer wäre, nicht auf den Lkw aufzufahren, sondern ein wenig auszuweichen und einen überdeckten Aufprall mit der Beifahrerseite zu machen. Damit haben wir Möglichkeiten, nur die Fahrseiten-Airbags auszulösen und die Auslösung so zu modulieren, dass ich den Fahrer optimal auffange. Die so genannte „passive Sicherheitstechnik“ wird also zunehmend aktiver – hier verschwimmen die Grenzen mit der steigenden Leistungsfähigkeit der Systeme.